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12 Euro müssen drin sein

Zum 1. Januar 2015 wurde in Deutschland ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt, um die Entlohnung der Beschäftigten im unteren Lohnsegment zu verbessern. Damit sollte für alle Beschäftigten eine untere Lohngrenze eingezogen werden. Zum 1. Januar 2017 wurde der Mindestlohn erstmals auf 8,84 Euro pro Stunde erhöht. Gleichzeitig liefen für verschiedene Branchen Übergangsregelungen aus, sodass die Zahl der anspruchsberechtigten Arbeitnehmer*innen zunahm. Zum 1. Januar 2019 ist er auf 9,19 Euro angehoben worden.

Zuvor ist jahrelang eine Koalition aus Politik, Arbeitgeberverbände und Wirtschaftsforschungsinstituten gegen eine gesetzlichen Untergrenze für Lohneinkommen Sturm gelaufen. Horrorszenarien wurden an die Wand gemalt: In einem gemeinsamen Aufruf warnten sieben Wirtschaftsforschungsinstitute vor erheblichen Beschäftigungsverlusten durch den Mindestlohn. Die Gesamtmetall-Propaganda-Truppe „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) sponserte eine Simulationsstudie, die zu dem Ergebnis kam: „Zwischen 250.000 und 570.000 Arbeitsplätze werden nach neuesten Berechnungen durch den gesetzlichen Mindestlohn ab 1. Januar 2015 in Deutschland wegfallen.“ Das Münchner ifo-Institut rechnete sogar mit bis zu einer Millionen mehr Arbeitslosen.

Die deutsche Wirtschaft profitiert

Entgegen derartiger Horrormeldungen konnte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vier Jahre später feststellen: „Durch den Mindestlohn ist es kaum zu negativen Externalitäten in Bezug auf die Beschäftigung gekommen“. Im Gegenteil: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist von 30,4 Millionen Mitte 2014 auf 32,5 Millionen im Sommer 2018 gestiegen. Waren vor Einführung des Mindestlohns noch sieben Prozent ohne Job, sind es aktuell noch 4,9 Prozent. Von der Einführung haben vier Millionen Beschäftigte unmittelbar profitiert. Allein im Gastgewerbe profitierten gut 20 Prozent direkt vom Mindestlohn.

Aber nicht nur die betroffenen Arbeitnehmer*innen, sondern auch die deutsche Wirtschaft hat davon profitiert: Denn ein Cent mehr Mindestlohn bedeutet einen Kaufkraftgewinn von 20 Millionen Euro pro Jahr. Allein für die Anpassung 2019 (+35 Cent) und 2020 (nochmals +16 Cent) bedeutet dies über 1,7 Milliarden Euro zusätzliche Kaufkraft in Deutschland.

Aktueller Mindestlohn zu niedrig

Fakt ist: Seit den 1990er-Jahren hat sich der Niedriglohnsektor in Deutschland vergrößert, der mittlerweile zu den größten in Europa gehört. Fast jede/r vierte Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobber*innen, gering Qualifizierte, junge und ausländische Beschäftigte arbeiten besonders häufig unter dem Regime von niedrigen Löhnen. Dieser Trend wird durch das gezielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen, Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst Bestandteil von Industriebetrieben, noch zusätzlich verstärkt.

Mit dem Mindestlöhne wurde zwar mittlerweile eine untere Lohngrenze eingezogen. Dennoch ist der aktuelle Mindestlohn immer noch zu niedrig. Trotz der letzten Erhöhung erreicht der Mindestlohn hierzulande mit 47,8% noch nicht einmal die Hälfte des Medianlohns – er liegt damit weiterhin deutlich unterhalb der Schwelle des Armutslohns (50%). Deshalb muss der Mindestlohn auf mindestens 12 Euro angehoben werden (60 Prozent des Medianlohns)

Nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB (WSI) reicht der Mindestlohn bei einem vollzeitbeschäftigten Single in 16 von 20 Großstädten nicht aus, um ohne Aufstockungsleistungen leben zu können. Besonders problematisch sind die Auswirkungen auf die Altersversorgung: Das Bundesarbeitsministerium hat festgestellt, dass erst mit einem Mindestlohn von 12,63 Euro ein Rentenanspruch oberhalb der Grundsicherung gesichert ist.

Vielen wird der Mindestlohn vorenthalten

Dennoch wird vielen Beschäftigten der ihnen zustehende Mindestlohn vorenthalten. Im Jahr 2017 bekamen, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), bei konservativer Berechnung rund 1,8 Millionen abhängig Beschäftigte aufgrund arbeitgeberseitiger Tricksereien einen Lohn unterhalb der Mindestlohnschwelle. Darüber hinaus gab es rund eine halbe Million Beschäftigte, die in einer Nebentätigkeit geringer entlohnt wurden, als es das Mindestlohngesetz vorsieht. (1)

 

Von der Nichteinhaltung des Mindestlohns besonders betroffen sind Beschäftigte in prekären Beschäftigungsverhältnissen und in Klein- bzw. Kleinstbetrieben. Im Vergleich der Branchen ist die Nichteinhaltung des Mindestlohns besonders ausgeprägt im Gastgewerbe, bei persönlichen Dienstleistungen, im Einzelhandel sowie in der Leih- und Zeitarbeit.

Mehr Mindestlohnkontrollen

Um zu verhindern, dass Beschäftigte von kriminellen Arbeitgebern um ihren Mindestlohn gebracht werden, sind flächendeckende und intensive Kontrollen des Zolls notwendig.  Daher fordert der DGB, Mindestlohnkontrollen auch ohne Ankündigungen, die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und eine schnelle Umsetzung des EuGH-Urteils zur Arbeitszeiterfassung.

Gute Arbeit geht nur mit Tarifvertrag

Fakt ist: Gute Arbeit geht nur mit Tarifvertrag. Dazu bedarf es konkreter Maßnahmen, um die den „Sumpf von tarifvertragsfreien Zonen“ trocken zu legen und Tarifverträge durchzusetzen, die ein existenzsicherndes Entgelt gewährleisten. Einen wesentlichen Beitrag dazu können „Gewerkschaftliche Erschließungsprojekte“ leisten, die das Interesse der Beschäftigten in den Betrieben an starken Gewerkschaften aufgreifen, und Überzeugungsarbeit leisten, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Es ist die Zahl der Mitglieder, die die Stärke einer Gewerkschaft ausmacht und diese in die Lage versetzt, Tarifverträge und akzeptable Tarifabschlüsse durchzusetzen.

Anmerkungen
(1) Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka und Carsten Schröder „Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht“, DIW-Wochenbericht 28/2019

Foto: DGB Bartolomiej Pietrzyk_123RF.com

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