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„Arbeiten bis zum Umfallen“

„68 Jahre“/ „70 Jahre“: Wissenschaftler*innen und Arbeitgeber*innen fordern höheres Renteneintrittsalter

Die Corona- Pandemie ist noch nicht vorbei, und schon planen sogenannte Expert*innen die Kosten auf die Arbeitnehmer*innen abzuwälzen. So startete kurz vor der Bundestagswahl ein neuer Angriff auf die Renten: Neoliberalen Ökonom*innen reicht die „Rente mit 67“ nicht mehr aus. So legte der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium von Peter Altmaier (CDU) ein Gutachten vor, das das Anheben des Renteneintrittsalter bis 2042 auf 68 Jahre und eine Begrenzung der Rentenerhöhungen vorschlägt. Ansonsten stehe der Kollaps des Rentensystems bevor, malen sie ein „Horrorszenario“ an die Wand. Denn mit der bevorstehenden Verrentung geburtenstarker Jahrgänge drohe ein „Finanzierungsschock“.

Das Beratergremium kritisierte, die von der Großen Koalition 2018 eingeführten „Haltelinien“, wonach das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinkt und die Beiträge nicht über 20 Prozent steigen soll. Bleibe es bei diesen Regelungen, müssten die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt für die Rentenkasse stark steigen. Das ginge zu Lasten von Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. „Einen bevorstehenden Ruin des Staates zu verkünden, um dann damit einschneidende Reformen zu begründen, ist keine wissenschaftlich fundierte Beratung, sondern politische Propaganda“, empörte sich DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel zurecht. Der Beirat wolle die Renten drastisch kürzen, den Sozialstaat abbauen und die Alterssicherung privatisieren, um Arbeitgeber*innen massiv zu entlasten.

Die Drohszenarien, dass die Rente langfristig nicht finanzierbar sei, sind unseriös. Im neuen EU-Altersreport vom Mai 2021 steht klipp und klar: Die Rentenausgaben in Deutschland steigen bis 2045 moderat von zehn auf zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und bis 2070 bleiben sie konstant. Das ist EU-Durschnitt und verkraftbar. Österreich gibt heute schon 13 Prozent für eine sehr gute Rente aus. Fakt ist: Wissenschaft dient hier nicht der Aufklärung, sondern der politischen Propaganda. Dazu wird tief in die Trickkiste gegriffen – als Beleg dienen irreführende Berechnungen und Behauptungen.

Der Beirat hält deshalb die Koppelung des Renteneintrittsalters an die Entwicklung der Lebenserwartung für unumgänglich. „Das geschieht am besten durch eine dynamische Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung“, sagte der Autor des Gutachtens, Axel Börsch-Supan. Gemäß den derzeitigen Prognosen der Lebenserwartung werde bei einer solchen Regel 2042 ein Renteneintrittsalter von 68 Jahren erreicht, berechnete der Beirat. Nach geltender Rechtslage wird die Altersgrenze für die Rente ohne Abschläge bis 2029 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Und schon diese Erhöhung des Eintrittsalters hat sich als Rentenkürzungsprogramm erwiesen und ist deshalb zurecht auf den Widerstand der Gewerkschaften gestoßen.

Der Vorschlag der Wissenschaftler*innen geht den Arbeitgeber*innen jedoch nicht weit genug: Das arbeitgebernahe Institut für Wirtschaft fordert sogar das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre zu erhöhen. Das IW spricht sich in der Studie, für die von Gesamtmetall finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), dafür aus, die Menschen länger arbeiten zu lassen und den sogenannten Nachholfaktor wieder einzuführen. Dieser bewirkt, dass die Renten nicht so schnell steigen. Sinken zum Beispiel in einer Krise die Löhne, müssten entsprechend auch die Renten gekürzt werden. Durch die sogenannte Rentengarantie sinken die Renten aber nicht entsprechend mit. „Mit einer fortgesetzten Anhebung der Regelaltersgrenze bis auf 70 Jahre ab 2052 ließe sich der Beitragssatzanstieg aber bremsen und gleichzeitig das Sicherungsniveau stabilisieren“, rät IW-Studienautor Jochen Pimpertz laut Rheinischer Post. Das Ziel ist klar: Die Arbeitgeber*innen sollen finanziell entlastet, die Beschäftigten gesundheitlich belastet werden. Die Rente erst ab 70 hieße für viele „Arbeiten bis zum Umfallen“, denn jeder fünfte Mensch stirbt hierzulande vor seinem 69. Geburtstag.

„Demografie-Katastrophe, Rentenleistung runter, Rentenalter rauf. Das ist die alte Leier, die fachlich wenig Beachtung verdient. Politisch ist sie aber höchst brisant. Sie schürt den Generationenkonflikt“, kommentiert Hans-Jürgen Urban, geschäftsführende IG Metall-Vorstandsmitglied, den Angriff auf die Rente. Die Parteien sollten sich schleunigst von solchen Ansätzen distanzieren, die die gesellschaftliche Spaltung zwischen Jung und Alt vorantreiben, und stattdessen nach solidarischen Lösungen suchen.

Da dies nach Auffassung der Arbeitgeber nicht ausreicht, schlägt ihr Institut darüber hinaus vor: Die Beschäftigten sollen eineinhalb Wochen Urlaub im Jahr weniger und zwei Stunden pro Woche länger arbeiten, um auf diesem Weg „die Wirtschaftsleistung deutlich zu steigern“, damit müsse „der Staat für die in der Coronakrise aufgelaufenen finanziellen Lasten keine Steuern und Abgaben erhöhen“. Richtig: Es besteht keine Notwendigkeit an der Abgabenschraube zu Lasten der Arbeitnehmer*innen weiter zu drehen. Dagegen ist gewerkschaftlicher Widerstand angesagt. Die Reichen und Vermögenden in Deutschland sind die Krisengewinner – sie müssen zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie stärker herangezogen werden.

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