Arbeitgeber setzen auf Attacke

Ein Erfolg der Gewerkschaften: Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro.
In diesem Jahr soll es eine zweite große Mindestlohnreform geben. Von bisher 9,60 Euro steigt der Mindestlohn zum 1. Januar auf 9,82 Euro und zum 1. Juli um weitere 6,4 Prozent auf 10,45 Euro. Und laut Koalitionsvertrag der rot-grün-gelben Ampel-Regierung soll der Mindestlohn noch in diesem Jahr mit einer „einmaligen Anpassung“ auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden.
Nach der Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro im Jahr 2015, erfolgt damit eine Anhebung auf ein Niveau, das sich einem existenzsichernden Einkommen annähert. Dies ist ein Erfolg der Gewerkschaften für die niedrig entlohnten abhängig Beschäftigten. „Die Erhöhung sei ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit“ sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der inzwischen einen Gesetzentwurf zur Abstimmung zwischen den Ressorts eingebraucht hat.
Rund 8,6 Millionen Beschäftigte haben zuletzt weniger als zwölf Euro brutto verdient, so die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Davon 7,3 Millionen in Hauptjobs (21,8 Prozent der Arbeitsplätze) und 1,3 Millionen (59,2 Prozent) in Nebenjobs. Wenn die Erhöhung schnell umgesetzt wird, „erhalten Millionen Beschäftigte teils deutlich höhere Gehälter vorausgesetzt, es werden keine Schlupflöcher gerissen“, so die Arbeitsmarktforscherin an der Uni Duisburg-Essen Claudia Weinkopf.
Laut einer Umfrage des Münchner Ifo-Instituts bei Personalleiter*innen würden bei Dienstleistern 20 Prozent der Beschäftigten profitieren, im Handel 10 Prozent und in der Industrie 7 Prozent. Eine Vollzeitkraft hätte netto 250 Euro mehr im Monat. Insgesamt wird der gesetzliche Mindestlohn zu einem Zuwachs von rund 9,8 Milliarden Euro im Jahr führen, berechnete das Pestel-Institut in Hannover. Das zusätzliche Geld geht bei den Menschen mit niedrigem Einkommen nahezu eins zu eins in den Konsum und stärkt damit die Wirtschaft.
Dennoch: Die Arbeitgeber setzen auf Attacke. Zunächst meldeten sich die üblichen Bedenkenträger wie der Handelsverband Deutschland (HDE) mit Kassandrarufen: „Dieser Plan steht nicht für Beschäftigung, sondern gegen Beschäftigung“, schimpfte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Im Übrigen: Das ist die gleiche Rumgejammere wie vor der Mindestlohneinführung 2015. Damals hatten Arbeitgeberverbände und einige Wirtschaftswissenschaftler auch alle Register gezogen und vor dem Verlust hunderttausender Arbeitsplätze gewarnt, was sich jedoch im Nachhinein als falsch erwiesen hat. Mehrere Wirtschaftsverbände fordern indessen eine Verschiebung des Zeitpunktes der Einführung der geplanten Mindestlohn-Erhöhung auf 2023 bzw. 2024.
Mittlerweile wird der Streit um die geplante Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro jedoch schärfer. Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, unterstellt den Gewerkschaften „Irreführung der Öffentlichkeit und eine Schwächung der Sozialpartnerschaft“, denn die Politik und die Gewerkschaften würden die Arbeit der Mindestlohn-Kommission „zerfleddern“, BDA-Präsident Rainer Dulger legte nach und wirft der „Ampel“ einen Bruch des Regierungsversprechens vor, „dass die Mindestlohnkommission der Wächter des Mindestlohns ist und nicht die Politik“.
Der „Oberindianer“ der Kapitalseite sieht darin einen schwerwiegenden Eingriff in die Tarifautonomie. „Die Folgen einer politischen Festsetzung des Mindestlohns sind doch offensichtlich: Tarifvertragsverhandlungen werden entwertet, und Tarifbindung wird gesenkt“, beklagt Dulger im Interview mit dem Handelsblatt (20.12.2021) Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warnt gar vor einem Systemwechsel hin zu „Staatslöhnen“ und droht mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht, denn die Tarifautonomie sei „verfassungsrechtlich geschützt.“
In Karlsruhe hätten die Arbeitgeberverbände allerdings wenig Aussicht auf Erfolg, „sind doch ihre Argumente, mit denen sie einen Widerspruch von Mindestlohn und Tarifautonomie konstruieren, alles andere als überzeugend“, betont Thorsten Schulten. Der Leiter des WSI-Tarifarchivs erinnert daran, dass der Mindestlohn in Deutschland überhaupt nur deshalb eingeführt wurde, weil die Tarifautonomie in einigen Bereichen nicht mehr funktioniert. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeite heute in einem Unternehmen mit Tarifvertrag. Vor allem in den Niedriglohnbranchen ist oft nur noch eine Minderheit der Beschäftigten tarifgebunden. „Von 12 Euro Mindestlohn profitieren ganz überwiegend Beschäftigte ohne Tarifvertrag“, so Schulten.
Tatsächlich tut sich in der Arbeitgeber-Argumentation ein gravierender Widerspruch auf: Zum einen verabschieden sich immer mehr Unternehmen durch Tarifflucht aus der Tarifbindung. Die Grundlage dafür legten die Arbeitgeberverbände wie Gesamtmetall durch die Schaffung von so genannten „OT-Mitgliedschaften“ selbst, in der Folge wechselten viele Verbandsmitglieder vom „Verband mit Tarifbindung“ zum „Verband ohne Tarifbindung“. Zum anderen beklagen sie nun einen Eingriff in die Tarifautonomie. Dies unterstreicht, dass es ihnen vor allem darum geht, niedrige Löhne durchzusetzen, um Zusatzprofite zu erwirtschaften.
Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung arbeiten etwa 80 Prozent der Beschäftigten mit Löhnen unter zwölf Euro in Betrieben ohne Tarifbindung. Bei den übrigen 20 Prozent fehlt schlicht die Durchsetzungsmacht in Folge eines geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten, um ein höheres Tarifniveau durchzusetzen. Das heißt, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade in den Niedriglohnbranchen würde eine Erhöhung des Mindestlohns tarifgebundene Unternehmen gegenüber der tariflosen Konkurrenz stärken und damit das Tarifsystem stabilisieren. Denn Mindestlohn und Tarifverträge folgen zwar unterschiedlichen Logiken, stehen aber keineswegs im Widerspruch zueinander, sondern können sich im Gegenteil positiv ergänzen.
„Eine Anhebung auf zwölf Euro würde in mehr als 190 Tarifverträge eingreifen und 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig machen. So entstünde eine enorme Lohnspirale nach oben“, jammert Dulger. Tatsächlich gibt es immer noch eine Reihe von Tarifverträgen, in denen einzelne Entgeltgruppen unter 12 Euro liegen. Beispielsweise gibt es im Organisationsbereich von ver.di mehr als 100 Tarifverträge mit Stundenlöhnen unter zwölf Euro, während dies im Organisationsbereich der IG Metall nur marginal eine Rolle spielt. Auch die Leiharbeit ist betroffen, die bereits 2012 also noch vor Inkrafttreten des gesetzlichen Mindestlohns 2015 eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze auf Grundlage des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eingeführt hatte.
Der Mindestlohntarifvertrag, den die Branchenverbände BAP und IGZ mit der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) vor gut zwei Jahren abgeschlossen hatten, sieht aktuell 10,45 Euro als Untergrenze vor. Die Verordnung des Arbeitsministeriums, die den Branchenmindestlohn für alle Unternehmen verpflichtend macht, läuft noch bis Ende dieses Jahres. Ohne Frage wird „eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro Auswirkungen auf unsere Tarifverträge und auf die in diesem Jahr dazu anstehenden Verhandlungen haben“, erklärt Florian Swyter, Hauptgeschäftsführer des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister (BAP). Fakt ist: Der Mindestlohn von 12 Euro verringert den Abstand zu den von Gewerkschaften ausgehandelten Tariflöhnen für untere Entgeltgruppen.
Um den Abstand zu wahren, müssen die Organisationen der abhängig Beschäftigten in den schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft überproportionale Lohnzuwächse durchsetzen. So hatte die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) im vergangenen Jahr vor den Tarifverhandlungen über eine neue Lohnuntergrenze im Bauhauptgewerbe mit seinen knapp 900.000 Beschäftigten bereits 14 Euro ins Spiel gebracht. Der alte Branchenmindestlohntarifvertrag, den die Gewerkschaft bereits Ende September zum Jahresende gekündigt hatte, sieht ein unteres Limit von 12,85 Euro vor. Das ist knapp ein Drittel mehr als der aktuell geltende gesetzliche Mindestlohn. Dieser Abstand sei erforderlich, um überhaupt noch Beschäftigte für die oftmals körperlich sehr belastenden Tätigkeiten am Bau zu finden, argumentiert die IG BAU.
Für die DGB-Gewerkschaften ist klar: Der Mindestlohn ist immer nur die zweitbeste Lösung – nach einer starken Tarifbindung mit guten Tariflöhnen. Wenn es die Arbeitgeber tatsächlich ernst meinen würden mit der Verteidigung der Tarifautonomie, dann würden sie mit den Gewerkschaften dafür sorgen, dass künftig wieder mehr abhängig Beschäftigte Tariflöhne beziehen, von denen man/frau leben kann. Das ist allemal besser als ein Mindestlohn.
Autor: Otto König