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Arbeitgeber wollen eine »Anti-Sozialstaats-Koalition«

Das »8-Punkte-Programm« der BDA zur Bundestagswahl

Pünktlich zur heißen Phase des Wahlkampfs zur Bundestagswahl ist das Thema der Tragfähigkeit der sozialen Leistungen auf den Tisch gekommen. Der Sozialstaat, der in der Corona-Pandemie in höchstem Maße beansprucht wurde – seitens der Gesundheitspolitik, der Pflegeleistungen, der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Verhinderung von Massenentlassungen – ist erneut ins Fadenkreuz der Arbeitgeber geraten. Allem voran die Alterssicherung.

Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, warnte, dass die gesetzliche Rente unfinanzierbar zu werden drohe und eine längere Lebensarbeitszeit unvermeidlich sei. Diese Argumentation scheint zwischen den Unternehmerverbänden abgesprochen zu sein. Auch Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf denkt laut über ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren nach, ebenso wie das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Schützenhilfe für die Kapitalvertreter leistete der wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums mit einer Studie, in der die finanzielle Nachhaltigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) infrage gestellt und als Konsequenz daraus eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 68 Jahre vorgeschlagen wird. 

Bei der Rentenversicherung handelt es sich um den größten Ausgabenbereich im deutschen Sozialstaatsgefüge. Ihre Leistungen seien in Frage gestellt, weil sich mit dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge »das Verhältnis zwischen Rentenbeziehenden und Beitragszahlenden fundamental verschieben« werde. So argumentiert die BDA in ihrem »8-Punkte-Programm« zur Bundestagswahl. Gleichzeitig führe die Alterung der Bevölkerung auch in der Kranken- und Pflegeversicherung zu einem erheblichen Kostenanstieg. »Ohne Reformen drohe der Gesamtsozialversicherungsbeitrag, der heute bei 40 Prozent liegt, bis 2040 auf rund 50 Prozent anzusteigen. Das wäre eine enorme Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen«. (1)

BDA und BDI setzen beharrlich eine alte Kampagne fort, deren Botschaft in der Praxis längst gescheitert ist. »Wer die Altersgrenze zur Rentenversicherung weiter anheben und die Beschäftigten zusätzlich drängen will, weitere Einkommensbestandteile in die immer volatilere private Alterssicherung zu geben, betreibt Sozialabbau mit unlauteren Mitteln und Motiven«, kontert Hans-Jürgen Urban die Forderungen der Arbeitgeberverbände.  Für das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall steht fest: Die Unternehmensverbände schmeißen ihr politisches Gewicht in die Waagschale für eine »Anti-Sozialstaats-Koalition« in Berlin nach der Bundestagswahl.

Mit Blick auf kommende Verteilungskonflikte im Zusammenhang mit der Bewältigung der Pandemie- und Krisenkosten streben die Kapitalverbände eine »Agenda 2030« an, deren vordringliche Ziele sind: Entfesselung, Deregulierung, Bürokratieabbau und Entlastung von Unternehmen. Als Leitbild dient ein schlanker Wirtschaftsstaat, der lang gehegte Klassenwünsche realisieren soll.

Der 8-Punkte-Plan der Arbeitgeberverbände schließt nahtlos an die »Vorschläge von Gesamtmetall für die 2. und 3. Phase der Corona-Krise« aus dem letzten Jahr an, die unverblümt offenbarten, dass die Pandemie genutzt werden soll, um betriebsverfassungsrechtliche Regelungen und Tarifbestimmungen einzuschränken oder zu schleifen. So könne nach Ansicht des IW durch »eineinhalb Wochen weniger Urlaub und zwei Stunden pro Woche länger arbeiten« die Wirtschaftsleistung deutlich gesteigert werden – und der Staat müsse somit für die in der Coronakrise aufgelaufenen finanziellen Lasten keine Steuern und Abgaben erhöhen (FAZ, 15.06.2021).

In ihrem 8-Punkte-Programm fordert die BDA neben den obligatorischen Steuererleichterungen für Unternehmen auch die weitere Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, das mit der täglichen Höchstarbeitszeit und den vorgeschriebenen Ruhezeiten zu starr geregelt sei und nicht mehr in die moderne Arbeitswelt passe. Desweiteren stehen der Erhalt befristeter Jobs und erleichterte Möglichkeiten »zum rechtssicheren Drittpersonaleinsatz im Rahmen von Werkverträgen und der Arbeitnehmerüberlassung« auf der Agenda. Wohin das führt, ist klar: Ausweitung der prekären Beschäftigung.Natürlich seidas Kündigungsschutzgesetz zu überarbeiten,um die »dringend notwendige Rechtssicherheit bei Verfahren von Massenentlassungen wieder herzustellen«. Die Mitbestimmung der Betriebsräte bei personellen Einzelmaßnahmen soll beschnitten werden. Dazu gehöre auch ein Ende der Homeoffice- und pauschalen Testpflicht in Betrieben.

Die Leistungskürzungen in der Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenpolitik bündeln sich im Motto: »40 – kein Prozent mehr!« Gemeint ist die Summe der Sozialversicherungsabgaben, die Unternehmen und Beschäftigte gemeinsam tragen. Das zentrale, aber wenig fundierte Argument für das Dogma der »40 Prozent-Marke« lautet: Steigen die Sozialabgaben darüber hinaus, sei die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedroht.

Eine Realisierung dieser Agenda würde auf einen flächendeckenden Rückbau der Arbeits- und Sozialverfassung hinauslaufen. »Der Ruf nach der Obergrenze 40 zielt darauf, sich mit Blick auf die Begleichung der bestehenden Rechnungen und die zukünftige Finanzierung sozialer Sicherung aus der Affäre zu ziehen. Künftige Ausgabensteigerungen für soziale Sicherung sollen allein von den Beschäftigen getragen werden.

Tatsächlich geht es jedoch nicht um die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen und Arbeitsplätzen. In den Verteilungsauseinandersetzungen gehört ein ganz anderes Thema auf die Tagesordnung: Deutschland weist im internationalen Vergleich bei den Markteinkommen (ohne soziale Transfers und Steuern) eine der höchsten Ungleichheitsraten auf. Der Skandal Nr. 1 besteht also darin, dass sich die Unternehmen gemessen an ihren internationalen Konkurrenten über einen langen Zeitraum sehr erfolgreich einem Lohndruck entziehen, in den unteren Lohneinkommensbereichen sogar Dumpingpolitik betreiben und ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum kräftig erhöhen konnten. Dies gelang, und das ist der Skandal Nr. 2, auch auf dem Weg der Tarifflucht. Der DGB hat in seinem jüngsten Verteilungsbericht die Kosten der Nicht-Zahlung von Tarifentgelten mit 35 Milliarden Euro bei der Kaufkraft der Beschäftigten, 25 Milliarden Mindereinnahmen bei der Sozialversicherung und 15 Milliarden Verlusten bei der Einkommenssteuer beziffert. (2)

Der Skandal Nr. 3 besteht darin, dass die Arbeitgeberverbände die zweite Ebene der Verteilungsauseinandersetzungen nun in den sozialstaatlichen Transferbereichen führen, die trotz Verschlechterungen immer noch in der Lage sind, manifeste soziale Ungleichheit zumindest abmildern. Und schließlich Skandal Nr. 4: die Vergiftung der politischen Debatte durch propagandistische Dämlichkeit. Hier trat Mitte Juni der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, anlässlich des »Tags der deutschen Industrie« in besonderer Weise in Erscheinung. Es sei, so behauptete er, völlig kontraproduktiv, über »Enteignung«, »Verstaatlichung« und Verbote immer neue Regulierungen zu erlassen. Schließlich komme die deutsche Wirtschaft nur dann gut aus der aktuellen Krise heraus, wenn die nächste Bundesregierung »den Weg in die Planwirtschaft« verlasse. Wo lebt der Mann?

Im ideologischen Übereifer wird gegen Grün-Rot-Rot gewettert, als stünde der Untergang des Abendlandes bevor. Für BDA-Präsident Dulger würde bei einer solchen Regierung »ein Feuerwerk von neuen Belastungen und Regulierungen« entfacht werden: durch einen »Wettlauf bei der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns«, der Ausweitung der Mitbestimmung, durch ein bundesweites Tariftreuegesetz, durch das Verbot von Minijobs und sachgrundloser Befristung.

Hoffnung dagegen mache das Programm der FDP, das sich vor allem durch die Aussage »keine Steuererhöhungen« auszeichne. Die Forderungen des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet nach einem »Modernisierungsjahrzehnt« und Bürokratieabbau bewertete Dulger ebenso positiv. Der Unions-Houdini Laschet folgt mit seinem Zaubertrick »Entfesselungspakete« dem marktwirtschaftlichen Kredo der Arbeitgeberverbände.

Doch so sind die bevorstehenden großen gesellschaftlichen Umbrüchen nicht zu bewältigen. In den nächsten vier Jahren müssen die Weichen durch die Politik so gestellt werden, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht und der ökologische Umbau mit hohem Tempo vonstattengehen kann, ohne ein Heer von sozialen Verlierern zu produzieren. »Wir brauchen nicht mehr und nicht weniger als einen radikalen Pfadwechsel in Richtung ökosoziale Nachhaltigkeit!« (Urban)

Nicht der Rückbau, sondern der Ausbau der Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen ist eine vorwärtsgewandte Reformoption. Wo das Geld für mehr Soziales und für die ökologische Transformation herkommen soll, steht für die Unterzeichner*innen des Aufrufs »Wir wollen eine ökologisch und sozial gerechte Gesellschaft für alle« fest. Bei Vermögen und Erbschaften sei Deutschland eine Steueroase, und zwar auch deshalb, weil »zwischen 1998 und 2015 die reichsten 30 Prozent der Bevölkerung steuerlich entlastet wurden, während die unteren 70 Prozent mehr Steuern zahlen mussten«, heißt es in dem Aufruf der Sozialverbände, Gewerkschaften und Kulturschaffenden. Es ist an der Zeit, Gemeinwohl vor Profit zu stellen.

Autoren: Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)

Anmerkungen

(1) BDA-8-Punkte-Programm »Wirtschaft sind wir alle«. Die Arbeitgeber zur Bundestagswahl, Berlin Mai 2021

(2) DGB: Verteilungsbericht 2021: Ungleichheit in Zeiten von Corona. Berlin 2021, S. 34.

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