Armut grenzt aus

WSI-Verteilungsbericht 2022: Krise verschärft das Problem
Armut hat in Deutschland viele Gesichter. Über zwei Millionen Menschen suchen regelmäßig Unterstützung und eine kostenlose Mahlzeit bei den Tafeln. Millionen Menschen können ihre Wohnung nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nicht angemessen heizen. Und fast jeder zweite Konsument gab kürzlich bei einer Umfrage der Unternehmensberatung EY an, wegen der der explodierenden Lebenshaltungskosten nur noch das Nötigste einzukaufen.
Die Gesellschaft in Deutschland driftet weiter auseinander: Die Armut steigt an und die Kluft bei den Einkommen wird größer. Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem mittleren Einkommen ist binnen nur zehn Jahren um ein Drittel gewachsen. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht (1) des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Nach Einschätzung der WSI-Experten spricht vieles dafür, dass die Coronapandemie und hohe Inflation die Probleme der Armen in den vergangenen Jahren weiter verschärft haben. Die hohe Inflation trifft besonders Familien mit niedrigem Einkommen hart, denn die größten Preistreiber – Strom, Heizung und Lebensmittel – haben bei ihnen einen größeren Anteil an den monatlichen Ausgaben als bei Wohlhabenden.
Besonders für Privathaushalte, die arm sind oder durch Armut gefährdet, verschärft sich die Situation momentan. Schon vor Beginn der aktuellen Krise konnten sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze keine neue Kleidung leisten, schreibt das Institut in seinem neuen Bericht zur Verteilung der Einkommen in Deutschland. Fünf Prozent der Armen konnten ihre Wohnungen nicht richtig heizen, und die Hälfte musste auf Urlaubsreisen verzichten.
Als arm definieren die Autoren der Studie, Dorothee Spannagel und Aline Zucco, gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens beträgt. „2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor“, heißt es in dem neuen WSI-Bericht. Mit zwischenzeitlichen Schwankungen stieg die Armutsquote laut SOEP zwischen 2010 und 2019 von 14,3 Prozent auf 16,8 Prozent. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, ging im gleichen Zeitraum sogar um gut 40 Prozent in die Höhe: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs von 7,9 auf 11,1 Prozent. (2)
Die WSI-Studie zeigt zudem, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten einschränkt: Die Betroffenen haben einen schlechteren Gesundheitszustand, geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben unzufriedener. Das führt bei vielen von ihnen zu einer erhöhten Distanz gegenüber dem politischen System: Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut. Bis in die Mittelschicht hinein wächst der Zweifel an der bürgerlichen Demokratie und ihren Institutionen. Rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland würden „eine zunehmende soziale Spaltung fürchten“, heißt es in der Studie.
Angesichts der rasant wachsenden Armut verspielen die politisch Verantwortlichen bei immer mehr Menschen das Vertrauen in das System. So lassen sich die wichtigsten Aspekte zusammenfassen, die aus den Ergebnissen des WSI-Verteilungsberichts hervorgehen. „Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres Miteinanders ins Wanken bringen“, meint die Direktorin des WSI Bettina Kohlrausch. Diese Entwicklung lasse in der Bevölkerung Frust entstehen und am politischen System zweifeln – und das nicht ohne Grund. Die beiden Studienautoren stellen fest: Politische Entscheidungen richten sich zunehmend nach den Interessen der reichen Einkommensschichten und übersehen systematisch die Anliegen der armen Bevölkerungsgruppen.
Zur Verbesserung der Situation werden in dem Bericht folgende Forderungen formuliert: Neben höheren Löhnen für Geringverdienende durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors sowie der Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau müsse auch eine tatsächliche Förderung von sozialem Wohnraum umgesetzt werden. Hinzu müsse eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommen, damit sowohl Familien mit nur einem Erwerbseinkommen als auch Alleinerziehende – beides Haushaltstypen, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sind – profitieren.
Nicht zuletzt müsse die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Qualifizierung ausgebaut werden. In dieser Frage sieht der Bericht im kommenden Bürgergeld-System immerhin Ansätze. Bei der Qualifizierung müssten die Migrant*innen in den Fokus genommen werden. „So können das Miss Match auf dem Arbeitsmarkt verbessert, Fachkräftemangel gemildert und Menschen ihren Qualifikationen entsprechend vermittelt werden“, konstatieren die Autorinnen.
Autor: Otto König
Anmerkung
(1)Dorothee Spannagel, Aline Zucco: „ARMUT GRENZT AUS“ WSI-Verteilungsbericht 2022, WSI-Report Nr.79, November 2022
(2)Für den Verteilungsbericht wurden die Daten aus zwei repräsentativen Befragungen ausgewertet, für die insgesamt rund 20 000 Haushalte interviewt wurden. Als arm werden darin – gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition – Menschen gezählt, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.