
Gebannt und schweigend starren am 18. Dezember 1987 morgens um 9 Uhr die Hattinger Stahlarbeiter und BürgerInnen auf den Hochofen III. Noch einmal taucht der „schwarze Riese“ den Himmel in Rot, seine Gasfackel lodert im Wind. Die letzten 100 Tonnen Eisen fließen in den bereitstehenden Torpedo-Pfannenwagen. Viele der 2.500 Kolleginnen und Kollegen, die sich nach der letzten Belegschaftsversammlung der Henrichshütte vor der Hochofenanlage „da unten“ versammelt haben, können gar nicht hinsehen und wenden sich ab.
Währenddessen nimmt der Hüttenvorstand „da oben“ auf der Bühne an der „feierlichen Endabnahme“ teil. Nicht ohne zuvor das von den Stahlarbeitern angebrachte Transparent mit der Forderung nach „Vergesellschaftung der Stahlindustrie“ entfernen zu lassen. Es fehlt nur der Sekt, die Zigarren und die Melonen, um das hässliche Gesicht des Kapitalismus, wie so oft in der Satirezeitschrift Simplizissimus karikiert, sichtbar werden zu lassen.
Während die geladenen Gäste Erinnerungsmedaillen an den „letzten Abstich“ erhalten, verteilen Kolleginnen der „Fraueninitiative Henrichshütte“ Nelken an die Hochofenarbeiter, die wie Harald Brezinski ihren Tränen freien Lauf lassen. Als jeder schon denkt: Jetzt ist der Ofen aus!“, erschüttert noch einmal ein lauter Knall das Werksgelände. Die letzten Gase sind verpufft: Das stählerne Herz der Hütte ist tot. An diesem grauen Dezembermorgen geht die 132jährige Geschichte der Henrichshütte im Hattinger Ruhrtal zu Ende.
Die Gedanken der Arbeiter und Angestellten und vieler Bürgerinnen und Bürger, die zur Hütte gekommen sind, gehen an diesem Morgen zurück auf die zwölf Monate ihres gemeinsamen, erbitterten Kampfs um den Erhalt der Hütte und für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen. Ein Kampf, auf den die gesamte Republik blickte, in dem Wut Phantasie freisetzte.
Foto: Stahlarbeiter machen die Kosterbrücke dicht
Im Revier stehen die Räder still
Wenige Tage zuvor standen im ganzen Revier die Räder still: Hunderttausend Stahlarbeiter, darunter auch die Werker der Henrichshütte, legten am 10. Dezember 1987 die Arbeit nieder und unterstützten nun die rd. 5000 Krupp-Hüttenwerker in Rheinhausen, denen ebenfalls der Verlust ihrer Arbeitsplätze drohte. Um fünf Uhr zogen vor den Eingängen der Henrichshütte die Torwachen auf. Doch keiner wollte hinein – mit Ausnahme der „Herren“ vom Vorstand. Die Produktion auf der Hütte ruhte wie so oft in den letzten zwölf Monaten. Ein Teil der Kollegen marschierte stadteinwärts zur Kreuzung Martin-Luther-Straße in der Stadtmitte. Rotweiße Sperrbänder wurden gespannt. Zur gleichen Zeit stellten sich zwei Kranwagen an der Kosterbrücke nach Bochum quer. Mit Handzetteln „Lieber Staus als Arbeitsplatzvernichtung“ warben die Stahlarbeiter um Verständnis für ihre Aktion. Es gab nur wenige Autofahrer, die dafür kein Verständnis aufbringen konnten. An der Ruhrbrücke fragte ein Polizist die zögernden Kollegen: „Wollt ihr hier nicht endlich dichtmachen?“ Sie waren noch zu wenige. Das änderte sich schlagartig. Aus dem nahegelegenen Bauhof rückten die Kollegen von der Müllabfuhr heran und über die Ruhrbrücke zogen die Metaller von Köppern herbei.
Plötzlich war Bewegung auf der Kreuzung der B 51. Mit dem Transparent „O&K’ler sind solidarisch“ kamen die KollegInnen anmarschiert. Aus den Sprockhöveler Betrieben schlugen sich kleinere Gruppen auf Schleichwegen übers Wodantal und den Salzweg durch. Denn auf der B 51 ging nichts mehr. Die Muckenhäupter hatten spontan die Straße vor „ihrem“ Betrieb gesperrt. Kein Wunder also, dass die Schüler und Auszubildenden an der Sperre nach Sprockhövel „arbeitslos“ waren. Zwischen den Posten kurvte Metzgermeister Brune mit seinem Bully herum und verteilte die von der „Werbegemeinschaft“ gespendete Fleischwurst. Beschäftigte des IG Metall Bildungszentrums schenkten Kaffee und Tee aus.
Kurz nach acht Uhr verlas der Verkehrsnachrichten-Sprecher: „Die Eingangsstraßen nach Hattingen sind gesperrt. Umfahren sie bitte weiträumig die Stadt“. Die KollegInnen jubelten: Dies führte im Anzeigenblatt „Hattingen zum Sonntag“ zu dem gehässigen Kommentar: (Auszüge) „Eindrucksvoll demonstrierten kampferprobte Hüttenwerker und Gewerkschaftsfunktionäre (…) ihre Macht: Für mehrere Stunden war die Ruhrstadt völlig von der Außenwelt abgeschnitten, die City glich einer Leichenhalle. Die Blockadetrupps handelten konsequent und selbstbewusst aus dem Gefühl heraus, dass auch die Polizei der nicht genehmigten, illegalen Aktion machtlos gegenüberstand“.
Nein, nicht machtlos, aber klug, denn NRW-Innenminister Herbert Schnoor plädierte für einen zurückhaltenden Kurs der Polizei, um nicht angesichts der Erregung der Stahlarbeiter „Kerosin ins Feuer zu gießen“. Worauf die „Brandstifter“ in der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl spekulierten, die per Brief die IG Metall warnten, die rechtswidrigen Aktionen zu unterstützen, und meinten „die krasse Widerrechtlichkeit solcher Aktionen ist in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar“.
Gegen Mittag legten 100.000 Bergarbeiter auf allen 32 Zechen die Arbeit nieder, um mit einer eigenständigen Aktion vor der Kohlerunde auf ihre Sorgen aufmerksam zu machen. In Recklinghausen und Herten besetzten junge Bergleute mit roten Fahnen und Transparenten die Fördertürme der Zechen „General Blumenthal“ und „Ewald“. Auch wenn der Thyssen-Sprecher empfahl „Ohren zu und durch“, dieser Proteststurm im Revier gegen die rigorose Kahlschlagpolitik der Stahlkonzerne war nicht zu überhören.
„Arbeit für alle“
Am 18. Dezember 1987 endete der seit zwölf Monate andauernde Kampf um den Erhalt der Henrichshütte und des Stahlstandortes Hattingen. „Ein Kampf, der Schlagzeilen und Fernsehsondersendungen provozierte, selbstgefällige Politiker und scheinbar allmächtige Manager unsicher machte“, so der damalige WAZ-Redakteur Lutz Heuken. Doch der Kampf um „Arbeit für alle“ war nicht beendet: Am 20. Februar 1988 demonstrierten erneut 18.000 Menschen durch die Innenstadt von Hattingen zur DGB-Kundgebung auf dem Rathausplatz. Der Widerstand gegen Arbeitsplatzvernichtung in der Region wird fortgeführt.
Foto 1: Protest beim letzten Hochofenabstich
Foto 2 einfügen: Stahlarbeiter machen die Kosterbrücke dicht
Fotos: Manfred Vollmer