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Demokratie? – Unerhört!

Es ist der letzte Trumpf, den Alexis Tsipras noch hatte. Das griechische Volk soll am 05. Juli entscheiden, ob es das Ultimatum der „Institutionen“ (Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF) zur weiteren Deregulierung des Arbeitsmarktes, Pensionskürzungen, weitere Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sowie in den Bereichen Gastronomie und Tourismus akzeptiert. Oder nicht.

Ist das Irrsinn? Nein, im Gegenteil. Es blieb dem griechischen Ministerpräsident gar nichts anderes übrig. Das „Friss-oder-Stirb-Angebot“, das sich von der Troika-Politik der vergangenen fünf Jahre nicht unterscheidet, verstößt gegen die europäischen Sozial- und Grundrechte. „Sie haben von der griechischen Regierung verlangt, einen Vorschlag zu akzeptieren, der weitere untragbare Lasten für das griechische Volk bedeuten würde und die Erholung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft untergraben würde“, begründete Ministerpräsident Alexis Tsipras den Beschluss seiner Regierung.

Spätestens am vergangenen Samstag musste die linksgerichtete Regierung endgültig zur Kenntnis nehmen, dass ihr die knallharte Konfrontationspolitik der Gläubiger jegliche Möglichkeit verbaut, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Die Technokraten verweigerten ihnen ein akzeptables Abkommen und setzten die Politik der Erniedrigung des griechischen Volk fort. Die richtige Konsequenz daraus ist das Referendum – die Entscheidung dem Volk zu übergeben.

Wer bisher nicht glauben wollte, dass die sogenannten Geldgeber im Krisenfall den Schuldnern im Detail vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, der konnte genau dies in den vergangenen Tagen mit verfolgen. Immer wieder wurde Athen oberlehrerhaft angemahnt, endlich „die Hausaufgaben“ zu machen. Es wurde die Mär lanciert, die Verantwortlichen würden sich nicht bewegen. Tatsächlich ist die griechische Regierung jedoch in den zurückliegenden Tagen weit auf die Gläubiger zugegangen. Der letzte Vorschlag aus der griechischen Hauptstadt beinhaltete so viele Kürzungen, dass sogar zweifelhaft war, ob dieser überhaupt in der Syriza-Fraktion und Partei durchzusetzen sei.

Dennoch reichte das den Gläubigern nicht, sie lehnten das Angebot ab und stellten erneut Forderungen, die der griechischen Wirtschaft den Rest gegeben hätten. Die Verhandlungsstrategie der Gläubiger hatte zum Ziel: Entweder Scheitern der Verhandlungen oder Totalkapitulation der griechischen Regierung. Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz kommentierte im Guardian: „Sie scheinen zu glauben, dass sie die griechische Regierung schließlich dadurch in die Knie zwingen können, indem sie sie so sehr drangsaliert, bis sie eine Einigung unterzeichnet, die ihrem Mandat zuwiderläuft.“ (29.06.2015)

Zu dieser Vorgehensweise gehört, dass medial verbreitet wird: Griechenland trage die Schuld am Scheitern der Verhandlungen. Das perfekte Zusammenspiel zwischen den politischen Verantwortlichen und den „Qualitätsmedien“ funktioniert reibungslos. Kaum hatte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wahrheitswidrig abgesondert, dass die griechische Delegation ein angeblich „neues Angebot“ mit weitreichenden „neuen“ Zugeständnissen überhaupt nicht verhandeln wollte, verbreitete der Leiter des ARD-Studios in Brüssel, Rolf-Dieter Krause: „Im letzten Programm waren Zugeständnisse drin, die die Bundesregierung nie machen wollte.“ Er fuhr fort: „Ich habe nicht gedacht, dass die Griechen so blöd sind, das nicht anzunehmen. Wer so vorgeht, gehört zum Teufel gejagt.“

Zum schmutzigen „Schwarze-Peter-Spiel“ gehört auch, dass in Brüssel und Berlin wider besseres Wissens herausposaunt wird, bei dem Referendum gehe es um den Verbleib des Landes in der Euro-Zone. So wirbt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker inbrünstig für ein „Ja“ der Griechen und behauptet, dass ein Nein bei der Volksabstimmung ein „Nein zu Europa“ bedeuten würde. Da durfte Wirtschaftsminister Siegmar Gabriel doch nicht zurückstehen. Er fabulierte ein „Nein“ zu den Brüsseler Angeboten sei ein klarer Entscheid gegen den Verbleib im Euro. Was die Entfernung von sozialdemokratischen Prinzipien angeht, stellte Gabriel hier einen neuen Rekord auf. (Jakob Augstein)

Tatsächlich steht jedoch das neu vorgelegte Kürzungspaket (1) zur Abstimmung: „Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.06.2015 eingereicht wurde“, heißt es die Frage auf dem Stimmzettel, die mit Ja oder Nein beantwortet kann. Die Zukunft verlange, dass die Griechinnen und Griechen am Sonntag laut Nein sagen, begründete der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis die Empfehlung der Regierung, denn mit diesem Votum könne über „Griechenlands Staatsschulden sowie die Verteilung der Lasten zwischen den mehr und den weniger Besitzenden neu verhandelt werden.“

„Das ist unerhört!“, so reagierte DIE WELT auf die Ankündigung der Volksabstimmung. Athen nehme die griechische Bevölkerung „in Geiselhaft“, wetterte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Eine irre Logik. Als unerhört gilt also, die Bevölkerung über ein „demütigendes Ultimatum“, das Kanzlerin Angela Merkel zynisch als „außergewöhnlich großzügiges“ Angebot bezeichnete, zu befragen und diese frei und ungestört über ihre eigene Zukunft entscheiden zu lassen. Eigentlich nennt man so etwas Demokratie.

Es ist offensichtlich: Es geht nicht mehr nur um´s Geld, sondern darum, wie der Kolumnist Seumas Milne der Bundesregierung und anderen Kräften in Europa in der britischen Zeitung Guardian vorwirft, die griechische Regierung in die Knie zwingen zu wollen: „Sie wollen einen Regimewechsel. Nicht mit militärischer Gewalt natürlich – die Operation wird in Berlin und Brüssel dirigiert, nicht in Washington.“ Ziel sei offenbar, die SYRIZA-Regierung zu demütigen und sie frühzeitig durch eine genehmere Regierung zu ersetzen. (01.07.2015)

Es kann keinen Zweifel geben: Tsipras soll aus dem Amt gedrängt werden. Er ist der einzige, der sich dem Dogma der Austerität entgegenstellt. „Man ist ja Syriza von Anfang an mit kritischer Verve, um nicht zu sagen mit Aversion begegnet“, erklärte die Politikwissenschaftlerin und frühere Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan im Gespräch mit der Berliner Zeitung (28.06.2015). Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble habe von Anfang an die Absicht gehabt, Syriza an die Wand fahren zu lassen, damit es keine Ansteckungsgefahr in Spanien oder Portugal gibt.

Beim Referendum am Wochenende, geht es also nicht nur um ein Kreditprogramm, es geht um den grundlegenden Kurs bei der künftigen Krisenbewältigung. Es geht um Alternativen zur demütigenden und unmenschlichen Austeritätspolitik. Es geht um die europäische Demokratie. Deshalb ist die Abstimmung eine Aufforderung an soziale Bewegungen, Gewerkschaften und linke Parteien in Deutschland und in Europa, sich der „kriminellen“ Politik der nicht demokratisch legitimierten Troika und der sie tragenden Regierungen und Brüsseler Bürokraten entgegen zu stellen. Es geht um eine Politik der Neugründung Europas. Denn Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn es offen, demokratisch und sozial gestaltet wird.

Foto: Werbung für das Referendum in Griechenland

Anmerkung
(1) Vor allem bei den Renten sollen noch einmal 1,8 Milliarden Euro herausgekürzt werden – also 1 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung. Der höchste Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent soll auf weitere Produktgruppen, darunter auch Nahrungsmittel, ausgedehnt werden (nur für Grundnahrungsmittel soll der ermäßigte Steuersatz gelten), Renten sollen stärker und schneller gekürzt und der Zuschlag, der Kleinstrenten auf maximal 700 Euro aufstockt, abgeschafft werden.

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