
Was macht eigentlich: Manfred Müller, ehemaliger 1. Bevollmächtigter
„Die Lichter sind bei Wittronic nicht nur im sprichwörtlichen Sinne aus: Der Vermieter hat dem insolventen Unternehmen den Strom abgedreht. Mit Taschenlampen mussten die Mitarbeiter ihr persönliches Hab und Gut ausräumen“, berichteten die Ruhr-Nachrichten (12.12.2007)
Den 1. Bevollmächtigten der IG Metall Witten zitierten sie mit den Worten: „Wie räudige Hunde werden sie verjagt“. Das Wittener Werk wurde durch die Aushöhlung durch die Muttergesellschaft „regelrecht kaltgestellt und bekam letztlich durch eine ‚taktische Entmietung‘ den Todesstoß“, erzählt Manfred Müller.
Das Drama der Wittener Siemens-Beschäftigten habe bereits zehn Jahre zuvor begonnen: Das 1970 von Siemens in Witten eröffnete Werk für Telekommunikationsanlagen firmierte ab 1999 unter dem Etikett „Vogt electronic AG“. Als Ende 2003 der Münchner Siemens-Konzern, der Hauptauftragnehmer blieb, entschied seine „Hi-Com-Telefonanlagen“ nicht mehr in Witten, sondern in Brasilien montieren zu lassen, hatte dies einen massiven Umsatzrückgang zur Folge. Die einst aus über 2.000 Menschen bestehende Belegschaft, wurde auf 430 abgebaut. „Wir schlossen im Jahr darauf einen Sanierungstarifvertrag ab. Im Gegenzug zu den Beiträgen der Beschäftigten wurde eine Standortgarantie bis 2007 vereinbart“, berichtet Manfred. Doch nach dem sich der Mutterkonzern „Vogt electronic AG“ im niederbayrischen Obernsee-Erlau weigerte die Verluste des Standortes Witten auszugleichen, meldete die Geschäftsführung Insolvenz an. „Vielfach überhöhte Sicherheiten, der Abzug jeglicher Kapitalmasse und die nachträglich erhöhte Konzernumlage“ hätten zu einem ‚substanzzerstörenden Eingriff‘ geführt“, so die damalige Betriebsratsvorsitzende Christa Messingfeld. „Sie haben den Standort regelrecht ausgeblutet“, steht für Manfred fest.
Nach 14 Monaten Insolvenz lautete im September 2006 die hoffnungsvolle Botschaft: Vogt Electronic kann als „Wittronic“ mit den noch vorhandenen 200 Arbeitsplätzen weitermachen. Die ADCURAM Industriekapital AG habe die Vermögensgegenstände erworben und damit die Voraussetzungen für einen „erfolgreichen Neustart“ geschaffen. Manfred: „Wir bezweifelten schon damals, dass die Pläne für die Fortführung realistisch waren.“ Im März 2007 habe das Unternehmen erneut den Eigentümer gewechselt: Der Investor „Fortuna Group“ übernahm den Elektronik-Hersteller. „Ein halbes Jahr später wurde die Wittronic über Nacht geschlossen, das Licht ging aus, der Vermieter des Firmengeländes ließ den Strom abstellen“, fasst Manfred Müller das Ende eines der „bittersten Kapitel“ in seiner langjährigen hauptamtlichen Tätigkeit in der Ruhrstadt zusammen.
Von Berlin ins Ruhrgebiet
Manfred Müller wurde 1951 in Berlin geboren. Es war die neue Tätigkeit seines Vaters, die die Familie und den damals Dreijährigen ins Ruhrgebiet führte, in die von der Metall- und Stahlindustrie geprägte Stadt Witten. „Es war keine leichte Zeit damals“, erinnert sich Manfred an seine Jugendjahre: „Eine sechsköpfige Familie, ein Verdienst, da musste schon Spitz auf Knopf gerechnet werden, damit man über die Runden kam“. Auf der Kronenschule machte er seinen Schulabschluss und begann, gerade mal 13 Jahre alt, am 1. April 1964 bei der Maschinenfabrik Heinrich Korfmann, einem Bergbauzulieferbetrieb in Witten, seine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Maschinenschlosser.
„Mit Beginn meiner Ausbildung wurde ich damals gleich Mitglied der IG Metall“, schildert Manfred seinen ersten Kontakt zur Gewerkschaft. Das sei damals so üblich gewesen. So erkläre sich auch der hohe Organisationsgrad im Betrieb, in dem unter anderem Bohrwagen, Abbauhämmer, Strebausbau- und Schrämmaschinen sowie Ventilatoren produziert wurden. Nach dem Facharbeiterabschluss war er zunächst ein Jahr in der Abteilung Ventilatoren tätig, bis er ab 1969 seinen 18-monatigen Wehrdienst ableisten musste. Auch hier konnte er seine Kenntnisse als Bordmechaniker bei der Wartung von Hubschraubern vertiefen.
„Viel über soziale Kompetenz gelernt“
Wieder zurück im Betrieb nahm er neben seiner beruflichen Tätigkeit auch sein gewerkschaftliches Engagement im Betrieb wieder auf. „Ich wurde Vertrauensmann der IG Metall und Mitte der 1970er-Jahre in den Betriebsrat gewählt“, sagt Manfred. „Das hat etwas mit meinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu tun“, erklärt er sein Engagement. Sehr wichtig, wäre gewesen, dass ihn in dieser Phase ein Alt-Geselle stark unterstützt habe, „von ihm habe ich viel über soziale Kompetenz gelernt“: über den Umgang mit Menschen und „deren feines Gespür, ob ihr Vertreter es mit ihren Interessen und Forderungen auch ernst nimmt“.
Manfred besuchte Seminare der IG Metall, um sich für seine Betriebstätigkeit zu qualifizieren – nicht nur Grundlagen- und Fachseminare, sondern auch Seminare „Geschichte der Arbeiterbewegung“ in der Bildungsstätte Lohr. Die Teilnahme an den Geschichtsseminaren hätte zu einem Disput mit dem damaligen Ersten Bevollmächtigten Friedhelm Ottlinger geführt, erzählt er lächelnd, der davon gar nichts gehalten hätte. „Du musst doch als abhängig Beschäftigter wissen, wo du herkommst, wie sich die Arbeiterbewegung entwickelt hat“, unterstreicht er seinen Standpunkt. Obwohl inzwischen junger Familienvater wäre es auch „die Zeit des Lesens“ gewesen. Mitglied der Büchergilde Gutenberg habe er die Bücher der Schriftsteller Jack London und B. Traven verschlungen, aber auch Werke von Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky. Mit diesem Background war klar, dass Manfred Müller sich von seiner IG Metall zum Referenten ausbilden ließ und schließlich selbst Seminare teamte. Gleichzeitig spezialisierte er sich auf Tarif- und Entlohnungsfragen, eine gute Grundlage für seine betriebliche und spätere hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit.
Anfang der 1980er Jahre wählten ihn seine Betriebsratskollegen zu ihrem Vorsitzenden. Es war in der Zeit als seine Gewerkschaft die „35-Stunde-Woche“ mit Arbeitskampfmaßnahmen in der Metall- und Elektroindustrie durchsetzte. Während in Baden-Württemberg und Hessen gestreikt wurde, „waren wir in NRW von der ‚kalten Aussperrung‘ betroffen.“ Es folgten die Aktionen gegen den „Streikparagrafen 119“ und den Sozialabbau der Kohl-Regierung in Bonn. Die Kolleginnen und Kollegen wählten Manfred in die Delegiertenversammlung und in die Ortsverwaltung der IG Metall Witten. Er wurde Mitglied im Vorstand der AOK im Ennepe-Ruhr-Kreis und ehrenamtlicher Richter am Arbeitsgericht.
Erst Gewerkschaftssekretär, dann 1. Bevollmächtigter in Witten
Zehn Jahre später – Anfang der 1990er-Jahre – begann ein neuer Abschnitt in seinem Arbeitsleben. „Ich hatte mich auf die ausgeschriebene Stelle eines Gewerkschaftssekretärs in der Verwaltungsstelle Witten beworben und wurde von der Ortsverwaltung eingestellt“, berichtet Manfred. Da der 1. Bevollmächtigte Jürgen Dittrich ehemals von DEW kam, also ein „Stahlmann“ war, wurde ihm die Betreuung der Metall- und Elektroindustrie und des Handwerks übertragen, „zusätzlich übernahm ich die Bereiche Vertrauensleute und Bildungsarbeit“.
Schon in den 1990er-Jahren habe in der Region „der Strukturwandel mit zunehmenden Arbeitsplatzabbau“ eingesetzt, verstärkt Anfang der 2000er-Jahre, „mit der Folge, dass die Anforderungen an die hauptamtlichen Kollegen in der Verwaltungsstelle enorm gestiegen sind “, so Manfred. Dies habe zu Diskussionen unter den ehrenamtlichen Funktionär*innen über einen notwendigen Wechsel an der Spitze der IG Metall Witten geführt. Im Jahre 2004 wählten sie Manfred zu ihrem neuen 1. Bevollmächtigten. „Es war kein leichte Arbeit, die ich da übernommen hatte“, schildert er die Amtsübernahme. Durch Mitgliederverluste sei die Verwaltungsstelle zum „sogenannten Kostgänger“ des Vorstandes in Frankfurt, also finanziell abhängig geworden, „da gab es schon Nachbarn, die auf uns als „Übernahmekandidaten“ schielten. Doch mit aktiver Unterstützung der Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder sei es gelungen den „Mitgliederrückgang abzuschwächen und gleichzeitig die Zahl der Vollbeitragszahler*innen zu erhöhen mit dem Ergebnis, dass ich meinem Nachfolger Mathias Hillbrandt eine gefüllte Ortskasse übergeben konnte“, betont er.
Wie wichtig die Mitgliedschaft der Kolleginnen und Kollegen in der IG Metall und damit ein hoher Organisationsgrad in den Betrieben ist, habe sich beim Eisenwerk Böhmer, heute Böhmer Gusstechnik, in Witten gezeigt. Die Firma war aus „dem Tarifvertrag geflohen“ und einer der beiden Besitzer wurde Vorsitzender des „Metall-Arbeitgeberverbandes ohne Tarifbindung“. „Doch die ‚Eisenwerker‘ haben dies nicht hingenommen, sondern haben sich die Tarifbindung wieder erkämpft“, so der ehemalige Bevollmächtigte: „Sie haben begriffen mit Tarifvertrag haben sie einen einklagbaren Anspruch und ohne müssen sie um Lohnerhöhungen betteln“. Dies hätten sie nach außen immer wieder deutlich gemacht.
Es war im Jahr 2012 als Manfred Müller die Altersteilzeitregelung der IG Metall in Anspruch nahm und aus der Funktion des 1. Bevollmächtigten in den „Unruhestand“ ausgeschieden ist. Jetzt hat er wieder mehr Zeit zum Lesen, aber auch zum Wandern, zum Schwimmen und zum Fahrrad fahren. „So auf 4 bis 5 tausend Kilometer zwischen März und November komme ich schon auf dem Rad“, sagt er ganz nebenbei. Und natürlich, wie könnte es auch anders sein, ist er noch gewerkschaftlich aktiv – als Mitglied der Delegiertenversammlung in der neuen IG Metall Geschäftsstelle Ennepe-Ruhr-Wupper, als Sprecher des IGM-Seniorenarbeitskreises Witten, im DGB-Kreisvorstand Ennepe-Ruhr und im Regionalbeirat der AOK Ruhrgebiet. Einen Strich hatte ihm und seiner Frau Ilse im letzten Jahr die Corona-Pandemie gemacht: Sie konnten leider nicht mit ihrem Sohn, den Verwandten und Freunden ihre „Goldene Hochzeit“ feiern.
Autor: Otto König