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Die weiße Elite schlägt zurück

Südamerika kommt nicht zur Ruhe. In Ecuador hat eine Revolte gegen die Politik des IWF die Regierung vorerst zum Einlenken gezwungen. In Haiti tobt ein Aufstand gegen die von den USA gestützte Regierung. In Chile protestieren und streiken Millionen für ein Ende der neoliberalen Politik und eine neue Verfassung. In Kolumbien beteiligen sich hunderttausende an einem Generalstreik gegen eine reaktionäre Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Dagegen droht in Bolivien ein Rollback mit dem Ziel, die Errungenschaften der indigenen Bevölkerung wieder rückgängig zu machen, alte ethnische und soziale Hierarchien wiederherzustellen. Seit dem 12. November ist Evo Morales in Mexiko im Exil. Der indigene Politiker, der 14 Jahre lang Bolivien regiert hat, wurde vom Generalkommandeur der Polizei, Yuri Calderón, und dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, William Kaiman, zum Rücktritt aufgefordert.

Nur wenige Stunden später ernannte sich die oppositionelle Senatorin Jeanine Áñez selbst zur neuen »Präsidentin«. »Ich träume von einem Bolivien frei von teuflischen indigenen Riten«, schrieb sie schon im Jahr 2013, »die Stadt ist nicht für Indios, sollen sie verschwinden ins Hochland oder in den Chaco!« Ihrer »Übergangsregierung« gehört kein einziges indigenes Mitglied an.

»Auslöser« des Staatsstreichs waren die Wahlen am 20. Oktober. Staatspräsident Evo Morales, Kandidat der Bewegung zum Sozialismus (MAS), wurde mit 47,08% der Stimmen und einer Differenz von 10,5 Punkten gegenüber dem konservativen Kandidaten Carlos Mesa (36,51%) vom Bündnis »Bürgergemeinschaft« zum Sieger erklärt. Gleichwohl war Morales geschwächt, hatte er doch nicht mehr wie zuvor 60% der Wählerschaft hinter sich. Der Verfassung zufolge ist ein Kandidat gewählt, wenn er über 40% der Stimmen und gleichzeitig über 10% Vorsprung gegenüber dem Zweitplatzierten hat. Die Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA) sprach zwar von »sauberen Wahlen«, aber von einem knappen Sieg.

Das war das Signal für die ultrakonservativen Kräfte, um zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufzurufen. Daraufhin beauftragte die Regierung die OEA mit der Überprüfung der Wahlergebnisse. Diese stellte in ihrem vorläufigen Bericht allerdings nur »Hinweise auf Unregelmäßigkeiten« bei der Übermittlung von 78 Ergebnisprotokollen – 0,22% aller Protokolle – fest. Während die OEA bis heute keinen Abschlussbericht ihrer Prüfung vorgelegt hat, kommt das Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) zu dem Schluss, dass »die Ergebnisse der vorläufigen Nachzählung mit dem Endergebnis übereinstimmen«. Statistische Unregelmäßigkeiten habe es lediglich in 274 der insgesamt 34.551 Wahllokale gegeben; die dabei festzustellenden Muster kenne man »in ähnlicher Form von Wahlen aus Honduras, Österreich oder dem US-Bundesstaat Wisconsin«, heißt es im Bericht. Und: Einen Zweifel daran, dass Morales’ Vorsprung über 10% betragen habe, ließen die Daten nicht zu.[1] Damit ist zweifach der Vorwurf der Wahlmanipulation zurückgewiesen.

Morales hat politische Fehler begangen. Unter anderem, indem er sich über ein Referendum hinweggesetzt hat, das ihm eine dritte Wiederwahl zum Präsidenten von Bolivien untersagte. Erst das Verfassungsgericht ermöglichte ihm daraufhin eine erneute Kandidatur. Es schadet der guten politischen Sache, wenn sich der Führer einer politischen Bewegung für unersetzbar hält. Doch deshalb anzunehmen, die rechte Opposition handele aus demokratischer Überzeugung und verteidige republikanische Institutionen, ist Unsinn. Den Oligarchen geht es schlicht um den Schutz ihrer seit der Kolonialzeit erworbenen Privilegien, die ihnen der vom einfachen Aymara-Kokabauern ins höchste Amt der Nation aufgestiegene Morales mit seiner Sozial- und Umverteilungspolitik geschmälert hat.

Die Ablehnung des OEA-Wahlaudits durch die rechte Opposition und ihre Forderung nach Neuwahlen untermauern, dass es den treibenden Kräften des Umsturzes – den Großgrundbesitzern, Oligarchen und Unternehmern der Soja-, Holz- und Ölbranche – nicht darum gegangen ist, ein angeblich »gefälschtes Wahlergebnis« zu korrigieren. Sie verfolgen eine Putschstrategie, um die MAS aus der Regierung zu vertreiben. Umverteilung zugunsten der verarmten indigenen Bevölkerung insbesondere im Hochland wie auch die Verstaatlichung wichtiger Bodenschätze war ihnen seit eh und je ein Dorn im Auge. Beides hatte Morales seit dem Beginn seiner ersten Amtszeit im Januar 2006 systematisch und mit Erfolg vorangetrieben.

Bereits zwei Wochen vor den Parlamentswahlen hatte Luis Fernando Camacho, Präsident des Bürgerkomitees »Pro-Santa-Cruz«, das von Unternehmern dominiert wird, vom Wahlbetrug der regierenden Sozialisten gesprochen und dazu aufgerufen, auf keinen Fall einen Sieg von Evo Morales zu akzeptieren. Danach radikalisierten sich die Forderungen: Camacho stellte Boliviens Präsidenten ein 48-stündiges Ultimatum, sein Amt niederzulegen. Die von Rechten angezettelte Gewaltwelle, in deren Verlauf staatliche Rundfunk- und Fernsehsender von Regierungsgegnern besetzt, MAS-Amtsträger angegriffen[2] und misshandelt wurden, nahm zu. Paramilitärische Banden begannen, Gewerkschaftssitze sowie Wohnhäuser von Kandidaten und politischen Führern der Regierungspartei anzuzünden.

Polizei und Militär zwangen den Präsidenten schließlich zum Rücktritt. »Meine Sünde war es, indigen, links und antiimperialistisch zu sein«, sagt Morales. Auch Vizepräsident Garcia Linera und die Parlamentsvorsitzende wurden mit Gewalt zur Seite geschoben. Nach dem Rücktritt des Präsidenten stürmte Camacho, den kürzlich die britische BBC den »bolivianischen Bolsonaro« nannte, in den Präsidentenpalast, eine Flagge in der einen und eine Bibel in der anderen Hand. »Die Bibel kehrt in den Regierungspalast zurück«, verkündete er. Auch Añez trug ostentativ eine riesige Bibel vor sich her, als sie in den Präsidentenpalast einzog.

Gegen die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung aus Indigenen und Mestizen soll eine Rekatholisierung erzwungen werden. Dabei hat der säkulare Staat Verfassungsrang. »Der Staat achtet und garantiert die Freiheit der Religion und des spirituellen Glaubens, in Einklang mit der Weltanschauung eines jeden. Der Staat ist unabhängig von der Religion.«

Der Umbruch der vergangenen 14 Jahre stand im Zeichen der Dekolonisierung. Innerhalb der sozialen Bewegungen, die Morales an die Macht gebracht haben, entstanden indigene Visionen des Sozialismus und der Werte von Pachamama (der andinen Mutter Erde). Der Soziologe Marco A. Gandarillas, Direktor des Dokumentations- und Informationszentrums CEDIB in Cochabamba, sieht vor allem in der neuen »plurinationalen Verfassung« den wichtigsten Verdienst der Regierung Morales.

Mit der Verfassungsreform von 2009 bekamen die einzelnen ethnischen Gruppen politische Rechte, Autonomie und Mitbestimmung garantiert. Doch der plurinationale Staat indigener Prägung war für die 15%ige weiße Großgrundbesitzer- und Viehzüchter-Minderheit von Anfang an eine Zumutung.

Wirtschaftlich gesehen sind die Amtsjahre von Morales die erfolgreichsten in der Geschichte Boliviens. Laut Daten der Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) konnte die bolivianische Wirtschaft im vergangenen Jahr ein Wachstum von 4,5% aufweisen. Das Pro-Kopf-Einkommen der elf Millionen Einwohner hat sich während der Amtszeit von Morales verdoppelt. Die MAS-Regierung reduzierte den Analphabetismus auf 2,4% und senkte die Arbeitslosenrate von 9,2% vor 13 Jahren auf 4,1%, die niedrigste der Region. Die gemäßigte Armut sank in diesem Zeitraum von 60 auf 34,6%, die extreme Armut von 38,2 auf 15%. Außerdem wurden eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung eingeführt.

Im Jahr 2006 hatte die bolivianische Regierung die Bodenschätze nationalisiert, vor allem die weltgrößten Vorkommen an Lithium, das für Mobiltelefone, Computer und Elektroautos gebraucht wird. Die Gewinne aus dem Gas- und Lithiumexport blieben im Land und kamen auch der armen und indigenen Landbevölkerung zugute. 

Das war einer der Gründe für den Sturz Morales, denn die weiße und reiche Elite hat es nie verwunden, dass ein Indigener die Bodenschätze nationalisiert und mit den Gewinnen Sozialprogramme für die indigene Bevölkerungsmehrheit finanziert hat. Und dabei machte Morales nicht den Fehler von Hugo Chávez und Nicolás Maduro in Venezula, mit einer extraktiven Wirtschaftspolitik sich letztlich auf Verteilungsmaßnahmen zu konzentrieren, die produktiven Ressourcen des Landes aber nicht weiter zu entwickeln und zu erneuern.

»Die Regierung von Morales folgt nicht der üblichen Storyline vom radikalen Linken, der an die Macht kommt und alles versaut, ökonomisch wie politisch, der Armut erzeugt und seine Macht durch autoritäre Maßnahmen zu erhalten sucht. Ein Beweis für den nichtautoritären Charakter von Morales’ Regierung ist, dass er Armee und Polizei nicht von seinen Widersachern ›säuberte‹ – weshalb sich diese jetzt gegen ihn wenden konnten.«[3]

Mittlerweile wurde im Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Neuwahlen den Weg ebnen soll. Danach sind keine Kandidat*innen mehr zugelassen, die in den zurückliegenden drei Legislaturperioden durchgehend ein politisches Amt innehatten. Damit ist Morales selbst von einer Teilnahme an Neuwahlen ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde das Begehren einer Amnestie für ihn und andere abgelehnt.

Eine der ersten Amtshandlungen von Jeanine Añez war der Erlass eines Dekrets, in dem es heißt, bei Operationen »zur Wiederherstellung der inneren Ordnung« seien die bolivianischen Militärs »von strafrechtlicher Verantwortung befreit«. Das ist eine Lizenz zum Töten bei der Niederschlagung von Protesten gegen die neuen Machthaber in La Paz. Am selben Tag wurden in der Stadt Cochabamba neun Menschen erschossen. Um die Jahrtausendwende nahm dort der Aufstieg der bolivianischen Linken mit dem Widerstand gegen die Privatisierung der Wasserversorgung, den Verkauf an einen US-amerikanischen Konzern, seinen Anfang.

Gleichzeitig hat Añez umgehend damit begonnen, Bolivien außenpolitisch neu zu positionieren und Maßnahmen gegen Kuba und Venezuela einzuleiten. So müssen die mehr als 700 kubanischen Ärzte, die bislang dazu beigetragen haben, die bolivianische Gesundheitsversorgung zu verbessern, umgehend das Land verlassen. Die Putschregierung hat die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela abgebrochen und die Mitgliedschaft in dem Bündnis ALBA (»Alternativa Bolivariana para los pueblos de Nuestra América«) beendet. Daraufhin war auf dem Twitter-Konto des US-Präsidenten Trump zu lesen: »Diese Ereignisse senden ein starkes Signal an die unrechtmäßigen Regime in Venezuela und Nicaragua«.

Da durfte die Bundesregierung nicht zurückstehen. Der erzwungene Rücktritt des Präsidenten sei ein »wichtiger Schritt hin zu einer friedlichen Lösung«, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, der sich hartnäckig weigerte, sich von den Handlungen der bolivianischen Militärs zu distanzieren.

Befürwortet wird der Putsch auch in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, deren außenpolitischer Sprecher Omid Nouripour äußerte, »das Militär« habe »die richtige Entscheidung getroffen, sich auf die Seite der Demonstrierenden zu stellen«. Eine sehr einseitige Bewertung in einer Zeit, in der das Militär auf die protestierende indigene Bevölkerung schießt. Mittlerweile sind mindestens 27 Todesopfer zu beklagen, über 715 Demonstranten wurden verletzt.

Nachdem die neuen Machthaber die indigene Flagge Whipala – neben der rot-gelb-grünen Trikolore die Staatsflagge Boliviens – öffentlich verbrannten, Polizisten diese von ihren Gebäuden einholten und aus den Abzeichen ihrer Uniformen herausschnitten, erhoben sich tausende Landbewohner*innen und Mitglieder verschiedener sozialer Gruppierungen. »Wir akzeptieren den zivil-polizeilichen Staatsstreich nicht, auch nicht den der Medien«, erklärten die Anführer*innen der ländlichen Lehrerschaft. Im ganzen Land fanden Demonstrationen von Indigenen, Bauern, Arbeitern, Bergleuten und Gewerkschaftern gegen den Putsch und die »Übergangspräsidentin« sowie gegen das repressive Vorgehen der Sicherheitskräfte statt.

 Es überrascht nicht, dass, »während die Indios dabei sind, die Leichname (…) von ermordeten Toten aufzunehmen, deren materielle und moralische Urheber erzählen, sie hätten dies zur Rettung der Demokratie getan. (…) Der Rassenhass kann nur zerstören. Er ist kein Horizont, er ist nichts anderes als eine primitive Rache einer historisch und moralisch dekadenten Klasse«, schreibt Álvaro García Linera in der mexikanischen Zeitung La Jornada.

Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)

Anmerkungen
[1] CEPR: What Happened in Bolivia’s 2019 Vote Count?, cepr.net/publications/reports/bolivia-elections-2019-11
[2] Gegner der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen.
[3] Slavoj Zizek: War das ein Staatsstreich in Bolivien?, in FAZ vom 24.11.2019.

Proteste in Bolivien Foto: dpa

 

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