Ein krasses Fehlurteil
Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke, Regierungspräsident in Kassel, ist offenkundig, dass eine verrohte Sprache den Weg zu realer Gewalt ebnet und rechte Gewalttäter ihre Hassfantasien in Taten umsetzen. Nicht erst, aber besonders nach diesem Mord schilderten Bürgermeister, Abgeordnete, Landräte von Drohungen und Beleidigungen, denen sie ausgesetzt sind. Insgesamt 1256 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger zählte das BKA im Jahr 2018. Darunter 43 Gewalttaten. Inzwischen vergeht kein Tag, an dem nicht mehr oder weniger ernstzunehmende Vorschläge gemacht werden, wie den Hass-Posts, Tweets und Comments im Netz entgegengewirkt, wie sie eingeschränkt und verfolgt werden können.
Auch der EuGH zeigt in einem aktuellen Urteil der nationalen Justiz und dem Gesetzgeber Instrumente, mit denen sie soziale Medien in die Pflicht nehmen können. Plattformen wie Facebook können künftig verpflichtet werden, bei der Tilgung rechtswidriger Inhalte effektiver vorzugehen, indem sie nicht nur exakt den einen gerichtlich beanstandeten Post löschen, sondern auch sämtliche wort- und sinngleiche Inhalte. Zudem eröffnet der EuGH den Gerichten einen Weg, um Onlinedienste zur weltweiten Löschung zu verdonnern. Die Standards für Beleidigung aber legen nationale Gerichte selbst fest. Von ihren Entscheidungen hängt ab, ob Betroffene wirksam gegen Hass und Hetze geschützt werden.
In diesem Zusammenhang sorgt ein krasses Fehlurteil der 27. Zivilkammer des Landgerichts Berlin (Az: 27 AR 17/19) für Empörung in der Öffentlichkeit. Die Botschaft des Urteiles lautet: Hatespeech ist erlaubt, Politiker müssen Beleidigung, Schmähung und Gewaltandrohung ertragen. Das Gericht wies eine Klage der Grünen-Politikerin Renate Künast ab, die von Facebook Auskunft (1) über die Namen und Anschriften von zweiundzwanzig Usern verlangte, die sie mit herabwürdigenden Äußerungen im Netz beschimpft hatten – um gegen diese strafrechtlich vorgehen zu können. Die Berufsrichter verweigerten das. Im Interesse der öffentlichen Auseinandersetzung müsse Künast sich Hass und Hetze gefallen lassen. Auch die allergrößten Unverschämtheiten seien gerade noch von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Selbst mit bescheidenen Rechtskenntnissen müsste man eigentlich davon ausgehen, dass Beleidigungen und Drohungen – wie: sie sei ein »Stück Scheiße«, ein »altes grünes Drecksschwein«, »geisteskrank«, eine »Schlampe«, »Sondermüll«, »gehirnamputiert« – nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Doch selbst in der öffentlich geäußerten Empfehlung, sie zu vergewaltigen, konnte das Gericht nicht feststellen, dass sie zum »Gegenstand sexueller Fantasien gemacht« worden sei. Die Unterstellung, dass Künast »vielleicht als Kind ein wenig zu viel gef…« wurde, ist laut Beschluss »überspitzt, aber nicht unzulässig«. Die Richter erklärten, hier werde mit dem Stilmittel der Polemik Kritik geäußert.
Die menschenverachtenden Beschimpfungen waren Kommentare auf der Facebookseite eines rechten Bloggers, der einen Zwischenruf der Politikerin aus dem Jahr 1986 ausgegraben und ihr vorgeworfen hatte, sie habe damals Geschlechtsverkehr mit Kindern verharmlost. Diese Aussage ist 33 Jahre alt und fiel in einer Debatte über die Strafbarkeit von Sex mit Kindern, sie wurde jedoch falsch wiedergegeben, denn Künast hatte nie solche Praktiken gutgeheißen. Indem die User-Kommentare auf diesen Vorwurf eingingen, erhielten sie »einen Sachbezug«, so das Gericht. Der Kommentar »Drecks Fotze« bewege sich zwar »haarscharf an der Grenze des von der Antragstellerin noch Hinnehmbaren«, aber auch der Kommentar »Schlampe« sei »ein Beitrag in einer Sachauseinandersetzung«.
Natürlich ist Meinungsfreiheit von existenzieller Bedeutung für die Demokratie. Deshalb ist sie verfassungsrechtlich geschützt. Doch wie alle Grundrechte hat auch dieses Grenzen, und die sind dann überschritten, wenn die Grundrechte anderer Menschen verletzt werden. Die Äußerungen, gegen die sich Renate Künast vor Gericht wehrt, sind vulgäre, sexualisierte Beleidigungen und Drohungen auf niedrigstem Niveau. Das lässt sich nicht mit der Meinungsfreiheit rechtfertigen.
Die Berliner Entscheidung setzt ein fatales Zeichen. Die Richter haben keine Brandmauer gezogen zwischen dem Hass, der sich in den sozialen Medien ausbreitet, und einem notwendigen kritischen Diskurs. Das Urteil schafft Freiraum für eine Barbarisierung der Sprache und Kommunikation und spielt Rechtsextremisten und Rechtspopulisten in die Hände. Die anonymen Tastaturkrieger, die solchen Unrat täglich ins Netz stellen, bleiben nicht nur unbehelligt, sondern bekommen auch noch einen Freibrief.
Als die Gerichte in der Weimarer Republik den Rechtsradikalen und den Nazis so viel durchgehen ließen, sagte der damalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch: »Manchmal will es scheinen, als gebiete die Methode der juristischen Auslegung, sich als reiner Tor zu gebärden, oder, vulgär gesprochen, sich dumm zu stellen.« »Ja – die Richter in Berlin haben sich, wie ihre Kollegen in der Weimarer Republik vor 85 Jahren, dumm gestellt. Sie haben einen Beitrag zur Primitivierung und Fäkalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geleistet«, kommentiert der Journalist Heribert Prantl die Entscheidung (Prantls Blick, 29.09.2019).
Die 27. Zivilkammer zitierte in ihrer Begründung wiederholt das Bundesverfassungsgericht. Doch so, wie die Richter den Artikel fünf Grundgesetz interpretieren, wird daraus ein Freibrief für Hass und Hetze. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass bei der Frage, ob ein konkretes Werturteil strafbar ist, zwischen dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen abzuwägen ist. Diese Abwägung ist laut Karlsruhe dann nicht erforderlich, wenn das Werturteil eine »Schmähkritik« darstellt, also eine »bloße Herabsetzung des Betroffenen«. So hatten die Karlsruher Richter erklärt, dass es nicht automatisch beleidigend sei, wenn man eine Staatsanwältin als »durchgeknallt« bezeichne.
Man muss aber nicht Jura studiert haben, um zu erkennen, dass zwischen der Äußerung, jemand sei »durchgeknallt«, und der Aufforderung, jemanden zu vergewaltigen, ein Unterschied besteht. Schmähungen werden auch nicht dadurch legitimiert, dass es einen politischen Verwendungskontext gibt. Weder die Flüchtlings- noch die Umweltpolitik, die einem Kritiker nicht passt, darf ein Freibrief für Straftaten sein.
Vielfach wurden in der Vergangenheit von Staatsanwaltschaften üble Beleidigungen von rechts abgewimmelt, rechtsradikale Straftaten kleingeredet und Verfahren gegen Rechtsradikale mit geradezu absurden Begründungen eingestellt. So wenn beispielsweise eine Staatsanwältin in Sachsen-Anhalt einem Kläger schreibt, der sich nicht gefallen lassen wollte, von einem stadtbekannten Rechten als »Krimineller« bezeichnet zu werden: »Soweit der Beschuldigte Sie oder andere Mitglieder des Bündnisses ›Halle gegen rechts‹ als Kriminelle bezeichnet hat, so ist dieser Begriff in die Alltagssprache eingegangen.« Und weiter: »Missbilligung gegenüber anderem Verhalten darf deutlich gezeigt werden, es darf ehrverletzend sein, solange sachliche Kritik noch erkennbar ist.« (Süddeutsche Zeitung, 10.01.2019)
Es ist Aufgabe der Politik und Zivilgesellschaft, sich den anonymen Menschenfeinden entgegenzustellen. Die Berliner Richter tun es nicht. Es wird die Aufgabe der nächsten juristischen Instanz sein, den Beschluss der 27. Zivilkammer des Berliner Landgerichts wieder einzukassieren und die hasserfüllten User im Netz mit Konsequenzen zu konfrontieren.
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1) Nach § 14 Abs.3 TMG) darf ein Plattformbetreiber Auskünfte erteilen, wenn Inhalte verbreitet werden, die z.B. Beleidigungen darstellen (§ 185 StGB) und nicht gerechtfertigt sind. Ein Gericht muss also eine strafbare Beleidigung feststellen.
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