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Eine vertane Chance

Anfang November hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dem Sanktionsirrsinn bei Hartz IV Grenzen gesetzt. Jahrelang hieß es für arbeitslose Menschen: Wenn du es wagst, einen Job auszuschlagen, der nicht deinen eigenen Qualifikation entspricht, oder wenn du die x-te sinnlose Maßnahme abbrichst, handelst du dir finanzielle Sanktionen ein. Wenn Betroffene die Regeln des Sozialgesetzbuch II nicht eingehalten haben, konnten Jobcenter- Sachbearbeiter*innen die Leistungen, also den dürftigen Regelsatz, der gerade einmal 424 Euro beträgt, zunächst um 30 Prozent, in einem zweiten Schritt um 60 Prozent und als ultimative Machtdemonstration sogar bis auf Null kürzen.

Diese Sanktionen für Hartz-4-Empfänger*innen sind zum Teil verfassungswidrig und verletzen die Würde des Menschen, so hat der erste Senat des BVerG unter Stephan Harbarth (CDU) in Karlsruhe entschieden. (1 BvL 7/16). Damit wird 15 Jahre nach Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die rot-grüne Bunderegierung ein Instrument zur Disziplinierung der Schwächsten in der Gesellschaft entschärft. Damit wird das „Ende der Rohrstockpädagogik“ eingeläutet, dennoch lässt das Karlsruher Urteil „das kalte Herz von Hartz IV weiterschlagen, nach Implementierung von ein paar Stents“, kommentiert der Journalist Heribert Prantl.

Es beendet nicht den zynischen pauschalen Verdacht, dass Menschen sich massenweise auf die faule Haut legen, wenn man sie nicht zu einem Niedriglohn-Job unter ihren eigenen Qualifikationen zwingt. Der Staat dürfe verlangen, dass Arbeitslose über „Brücken“ gehen, die er ihnen baut, so die Karlsruher Richter. Soweit bleibt die „Mitwirkungspflicht“ bestehen. Aber wenn es um Strafen für „Pflichtverletzungen“ geht, erteilen diese den Regierenden eine Lektion in Menschenwürde. 

Insoweit ist die Entscheidung auch eine juristische Ohrfeige für jene Hardliner, wie Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinen Ex-Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, die 2005 Hartz IV eingeführt und damit die Schuld an der Arbeitslosigkeit an diejenigen abgeschoben haben, die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht waren bzw. sind. Schon im Jahr 2010 hat ihnen das BVerG die Berechnung der Hartz-Regelsätze zerlegt, nun das „Arsenal an alttestamentarischen Strafen“ zusammen gestrichen, die das Regelwerk vorsieht.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Jobcentern die härtesten Ausformungen des Sanktionsregimes genommen. Hartz IV-Empfänger*innen darf auch bei Pflichtverletzungen in der Jobsuche das Geld nur um maximal 30 Prozent gekürzt werden. Abschläge von 60 oder gar 100 Prozent in Wiederholungsfällen sind grundgesetzwidrig. Auch die starre Sanktionsfrist von jeweils drei Monaten wurde gekippt. Bei einer Verhaltensänderung müssen Betroffene die Möglichkeit erhalten, dass die dreimonatige Frist verkürzt wird. Die Behörden erhalten mehr Spielraum auf Sanktionen bei „außergewöhnlicher Härte“ zu verzichten. Der willkürlichen Vernichtung von Existenzen wurde damit ein Riegel vorgeschoben.

Insofern ist das BVerG-Urteil eine gute Nachricht für alle ALG II- Bezieher*innen, die sowieso schon am Rand leben und oftmals in den Abgrund gestoßen wurden, wenn sie in die Sanktionsmaschinerie gekommen sind. Seit die als Hartz IV bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 eingeführt wurde, gehören die Sanktionen zu den umstrittensten Elementen. Mit dem Arbeitslosengeld II ist eine höchstens noch das Existenzminimum sichernde Fürsorgeleistung getreten, die nicht ausreicht, um in Würde leben, sich gesund ernähren und ordentlich kleiden zu können.

Hinzu kommen die Vielzahl harter Bedingungen, die ALG-II-Bezieher erfüllen müssen: Das sogenannte Schonvermögen wurde verringert: Langzeiterwerbslose müssen selbst eine der Altersvorsorge dienende Kapitallebensversicherung und/oder eine selbstgenutzte Immobilie veräußern, bevor sie ALG II erhalten können. Für ihre Arbeitsaufnahme gilt eine verschärfte Zumutbarkeit: Sie müssen jeden Job annehmen, auch wenn er weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt wird.

Im Jahr 2018 gab es 4,14 Millionen Arbeitslose, die Hartz IV-Leistungen empfangen haben. Nur gegen 8,5 Prozent wurden Sanktionen verhängt. Die übergroße Mehrheit hat keine Mitwirkungspflichten verletzt. Von den rund 904.000 Sanktionen in 2018 waren die meisten (77 Prozent) wegen versäumter Termine im Jobcenter.

Nach dem salomonischen Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt sich verschärft die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient. Sie muss armutsfest, bedarfsgerecht und repressionsfrei sein. „Ich hoffe sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Ausgangspunkt ist, prinzipiell darüber nachzudenken, ob wir nicht statt einer Rohrstock-Pädagogik des früheren Kaiserreichs im Arbeitsmarkt und Sozialrecht ein anderes System brauchen, das eher positiv versucht, Anreize zu setzen, um Betroffene zur Mitwirkung zu motivieren,“ so der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Notwendig sei ein sozialer Arbeitsmarkt und eine Förderung im Sinne eines Weiterbildungsgeldes: Wenn jemand eine berufliche Weiterbildung macht, dann sollte er finanzielle Anreize bekommen. Menschen werden „nicht durch Druck – durch Drohung mit Sanktionen – motiviert, sondern dadurch, dass sie Anreize bekommen“.

„Dass die Karlsruher Richter Teile der Sanktionen für verfassungswidrig erklären, ist ein Handlungsauftrag, den die Politik nicht auf die lange Bank schieben sollte,“ erklärte Hans-Jürgen Urban, im IG Metall-Vorstand für die Sozialpolitik zuständig. „Das vorhandene Sanktions- und Zumutbarkeitsregime muss überwunden und durch unterstützende und weiterbildende Maßnahmen ersetzt werden – im Interesse der Betroffenen und im Interesse einer qualifikationsförderlichen Arbeitsmarktpolitik.“ Die Bundesregierung darf sich nicht darauf beschränken, hart am Rande der Rechtsprechung entlang zu reformieren.

Es ist deshalb nur konsequent, dass der DGB – und damit auch die IG Metall, gemeinsam mit die Diakonie Deutschland und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie weiteren Verbänden und Organisationen von der Bundesregierung und dem Bundestag fordern, die bestehenden Sanktionsregelungen ganz aufzuheben: An Stelle der geltenden Sanktionsregelungen – auch wenn sie aktuell durch das BVerG-Urteil eingeschränkt worden sind – ist ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung nötig. Der Sozialstaat müsse sein zentrales Versprechen einlösen: Wer fällt, wird aufgefangen.

Die wichtigsten Forderungen dazu sind:

  • Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf bis zu 36 Monate verlängern, nach Lebensalter gestaffelt.
  • Die Voraussetzungen für ALG I Bezug erleichtern.
  • Den Hartz IV Regelsatz deutlich anheben und bei besonderem Bedarf Einmalzahlungen gewähren – zum Beispiel, wenn die Waschmaschine kaputtgeht.
  • Perspektivisch die Verankerung eines individuellen Anspruchs auf Grundsicherung.
  • Unter 25-Jährige nicht schärfer sanktionieren als andere. Mit den Regeln für diese Altersgruppe hat sich das Verfassungsgericht nicht befasst.
  • Zumutbarkeitsregeln ändern.

Wichtigstes Ziel bleibt: Vermeiden, dass Menschen überhaupt auf Grundsicherung angewiesen sind. Dazu braucht es Tarifbindung und bessere Qualifizierungsmöglichkeiten. Denn Hartz IV war, ist und bleibt vor allem: Armut per Gesetz. Deshalb muss das Hartz-IV-System überwunden werden.

Foto: Protest gegen Hartz IV – dpa

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