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„Elf Tage“ – Solidarität im Schatten der Hochöfen

Elf Tage – vom 15. bis 25. September 1987 – hat das „Dorf des Widerstandes“ allen Widrigkeiten zum Trotz im Schatten der Hattinger Hochöfen gestanden. „Es waren keine elf Tage, die die Welt verändert haben, aber elf Tage an denen die Hattinger Stahlarbeiter mit ihrem Widerstand erneut öffentliche Schlagzeilen machten“, erinnert sich der ehemalige IG Metall-Vertrauenskörperleiter der Hütte, Peter Maurer. „Hattingen ist bundesweit zum Symbol des Widerstandes geworden und dieses Dorf kann zur Quelle des Widerstandes überall werden“, sagte der damalige IG Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler bei der Eröffnung.

Von weitem wirkte das „gallische“ Dorf mit seinem runden, blauen Zirkuszelt, den Bänken und Tischen auf dem Dorfplatz und den kleinen Zelten des Bürgerkomitees, der Hüttenfrauen, der Jugendinitiative und der Kulturinitiative KUBISCHU fast idyllisch. Tatsächlich war es aber keine leichte Entscheidung das „Hüttendorf“ auf dem werkseigenen Parkplatz (heute Gelände des Baumarkts Hellweg) aufzubauen. „Der Vorstand der Thyssen Henrichshütte hat es abgelehnt, in seinem Eigentum befindliches Gelände für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen“, wurde dem IG Metall-Bevollmächtigten Otto König unmissverständlich mitgeteilt.

„Mit allem Nachdruck“ wiesen sie darauf hin, dass „ein solch rechtswidriges Vorhaben“ nicht toleriert werde und sie „mit den uns zu Gebote stehenden Möglichkeiten dagegen vorgehen“ werden. Die Ortsverwaltung der IG Metall Hattingen ließ sich jedoch nicht unter Druck setzen und stärkte einstimmig dem Vertrauenskörper auf der Hütte für das Vorhaben den Rücken. Dreißig Kollegen bauten die kleine Zeltstadt auf, viele von ihnen wie die Vertrauensleute Konrad Karwatzki und Ulrich Plitt nahmen Urlaub oder feierten Überstunden ab.

Dass die Entscheidung richtig war, zeigte die Solidaritätswelle, die in diesen Tagen erneut auf Hattingen zurollte. Zigtausend KollegInnen aus vielen Teilen der Republik, ließen sich nicht von der Drohung „Hausfriedensbruch“ einschüchtern. Es kamen Metaller-Delegationen aus vielen IG Metall Verwaltungsstellen, wie aus Hanau mit Michael Pilz und Richard Pfaff, Hans-Jürgen Urban mit den AGF‘ lern und Metallern aus Marburg. Sie hatten ein riesiges Transparent mit der Forderung nach „Vergesellschaftung“ im Gepäck. 50 Auszubildende von Audi in Ingolstadt standen plötzlich auf dem „Dorfplatz“, die nach einem Seminar spontan einen Reisebus charterten und ins Revier fuhren: „Wir mussten einfach unsere Solidarität zeigen.“

Aktivitäten im „gallischen“ Dorf

Zwei Wochen diskutierten die Hüttenbeschäftigten mit BürgerInnen aus der Region und BesucherInnen in den unterschiedlichsten Foren, Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben im Revier. Im „Seniorenforum“ zogen unsere älteren Kollegen Parallelen zwischen dem Kampf gegen die Demontage 1947 und gegen die Arbeitsplatzvernichtung 1987. Beim „Forum der Stahlarbeiter“, an acht Betriebsratsvorsitzende aus dem Ruhrgebiet, aus Bremen, Peine, Salzgitter und der Oberpfalz teilnahmen, stand der betriebsübergreifende Widerstand im Mittelpunkt. Franz Kick von der Maxhütte sagte unter tosendem Beifall: „Das ist Notwehr, da können wir nicht mehr fragen, ob alles legal ist.“ Dass Stahlarbeiter in der Lage sind, auch andere Produkte zu fertigen, stand im Mittelpunkt der Debatten im „Forum Neue Produktion“ nach.

Diskussion im Frauenforum über Vernetzung der Arbeitskämpfe

300 Kolleginnen  – der Fraueninitiative, Vertreterinnen aus den benachbarten Verwaltungsstellen Gevelsberg, Velbert und Witten, sowie von Initiativen anderer Regionen, tauschten im „Forum Frauen“ ihre Erfahrungen und Ideen aus. „Wir haben das stahlpolitische Programm der IG Metall gelesen. Und wenn wir nach Hause kamen, wussten wir Sachen, von denen unsere Partner noch nie was gehört hatten“, beschrieb Betriebsratsmitglied Marga Wende den Bewusstseinsprozess unter den Frauen. Die Kolleginnen agitierten für die Vernetzung der Aktivitäten: Wir müssen die Feuer in die anderen Städte tragen – nach Duisburg und Dortmund.

Ein Novum: Zum ersten Mal in der Geschichte der IG Metall Verwaltungsstelle Hattingen tagten die Vertreter von rund 12.000 Mitgliedern öffentlich in einem „Dorfzelt“. Unter Beteiligung der Medien und Teilen der Bevölkerung wurde Bilanz gezogen. Der zweite Bevollmächtigte Hartmut Schulz konnte eine Abordnung des „Arbeitskreises demokratischer Bauern und Winzer“ aus Rheinlandpfalz begrüßen. Ein Raunen ging durchs Zelt als darüber informiert wurde, dass die Verwaltungsstelle für den nun schon seit neun Monate andauernden Kampf 90.000 DM aus der Ortskasse aufgewandt habe. Hans Preiss, gf. IGM-Vorstandsmitglied, warnte in seinem Referat davor, die Unternehmer mit Wohlverhalten beindrucken zu wollen.

Scheinwerfer warfen grelles Licht über das „Widerstandsdorf“. Im „Dorfzelt“ zeichnete das WDR Fernsehen heiße Diskussionen zum Thema „Kultur in der Krise“, um sie live unter dem Titel „Eine Halde von Muskelschrott“ auszustrahlen. Transportiert wurde der Gedanke einer „Kultur, die aus den Kämpfen heraus entsteht“ – der nicht nur in Hattingen neuen Nährboden findet.

Diskussionen im Dorf

Und wo sonst konnten junge Menschen in diesen Tagen den Unterricht besser vermittelt bekommen als vor Ort im „Jugendzelt“. 20 Schulklassen aus Hattingen, Essen und Witten – Haupt-, Real-, Gesamtschüler, Berufsschüler mit ihren Lehrern – konnten Gewerkschaftssekretär Bernd Lauenroth und der Jugendvertretervorsitzende Klaus Müller begrüßen. Hautnah vermittelten Betriebsratsmitglieder und Jugendvertreter die Fächer „Politik“ und „Sozialkunde“ im Zelt. Die Jugendlichen begriffen manchmal schneller, worum es in diesem Konflikt ging als ihre Lehrer, denen die betriebswirtschaftlichen Argumente von Thyssen „schon einleuchteten“.

Trotz Druck des Thyssen-Vorstandes auf die Amtskirche, ließen sich die Pfarrer beider Konfessionen nicht beeindrucken. „Sprecht Ihr in Wahrheit Recht, ihr Mächtigen? Nein, wissentlich tut ihr Unrecht im Lande“. Unter diesem 58. Psalm versammelten sie sich mit ihren Gemeindemitgliedern im Zelt des Widerstandsdorfs. Während der Diskussion stand ein Arbeiter der Hütte auf und fragte: Warum darf der Vorstandsvorsitzende der Thyssen-Stahl AG Dr. Kriwet in der Düsseldorfer Berger Kirche auf der Kanzel behaupten, ein Christ dürfe Hattingen stilllegen? Und warum seid ihr Pastoren, die ihr hier im Dorf seid, schon aufgrund der Tatsache, dass ihr hier seid, das Gegenteil? In der Tat, es war für viele verwirrend mit Verweis auf die Bibel beides zu hören: „Ein Christ darf Hattingen stilllegen!“ – „Ein Christ darf Hattingen nicht stilllegen!“

Solidarität der Künstler

Zwischen den Kulturschaffenden und den kämpfenden Stahlarbeitern entwickelte sich während der ganzen Auseinandersetzung eine produktive Zusammenarbeit. Hellmut Lemmer las seine Gedichte, umringt von den hungerstreikenden Frauen vorm Werkstor. Zehn bildende zeigten Flagge für ihre Stadt und hängten am ehemaligen Parkhaus Reschop riesige Fahnenbilder auf, sichtbar für jeden wurden die Probleme und Ängste der Menschen dargestellt. Der Mannheimer Liedermacher Bernd Schlauch vertonte das Kampfmotto: „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“ und produzierte gemeinsam mit der Mönninghoff- Songgruppe eine Single mit den Liedern „Stahlwerkersong“ und „Keine Wahl“.

Im Dorf spürten die Künstler, dass sie nicht im luftleeren Raum agierten, dass ihr Engagement dankbar angenommen wurde. Hartmut Schulz brachte es auf den Punkt: „Schau in die Gesichter der Betroffenen und ihrer Familien, und du siehst, die Lieder und Texte kommen an. Sie gehen unter die Haut.“ Reinhard Kreckel entwarf eine Stahlplastik, die die unterschiedlichen großen Bereiche der Hütte darstellte. Das Betriebsratsmitglied Dieter Lysiak schweißte die drei Stahlplatten zu einer in sich versetzten Pyramide fachmännisch zusammen. Sie steht heute am Rande Hüttenstraße stadteinwärts.

Der Schatten des Hochofenarbeiters war noch sichtbar. Seinen Schmelzeranzug hatten die Hüttenarbeiter August Kuhnert und Rainer Sieler herausgebrannt. Der Maler Egon Stratmann begrub ihn unter einem vom Hüttenfeuer gezeichneten Tuch. Das Feuer, Symbol des Hochofens, der stillgelegt werden soll, brannte herunter. Später entstand sein Werk „Fahnen des Widerstandes“.

Abschlusskundgebung im Dorf

„Feuer des Widerstands“

Am letzten Tag – es wurde schon dunkel – entzündeten rund 5000 Stahlarbeiter, MetallerInnen und BürgerInnen, unter ihnen 200 KollegInnen aus Betrieben der „Patenstadt“ Mannheim, Fackeln, und trugen das „Feuer des Widerstands“ in die Innenstadt. Zwischen den Fachwerkhäusern auf dem Untermarkt wurde das „Dorf des Widerstandes“ beendet, aber nicht der Kampf zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Denn so Peter Maurer: „Es gab keine Alternative zu unserem Kampf, den wir ohne Illusionen, aber mit Hoffnungen führten, mit dem Ziel, in unserer Region Arbeit und Leben zu sichern“. Dass der „freie Fall Hattingens in das wirtschaftliche und soziale Abseits verhindert“ wurde, so LWL-Museumschef Robert Laube, ist der Solidarität und den dickköpfigen Stahlarbeitern sowie ihrer IG Metall zu verdanken.

Fotos: IGM G-H Archiv

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