„Enough is enough“ (Genug ist genug)

Europa: Protest gegen Auswirkungen der Energiekrise
Die soziale Schieflage sowie die Unfähigkeit der Politik, darauf angemessen zu reagieren, schüren in ganz Europa eine Fruststimmung. Die sich überlagernden Krisen treffen die Menschen mit voller Wucht. Nicht nur in Deutschland sorgen sie für eine explosive politische Gemengelage.
Wie prekär die Situation in Europa ist, zeigen alarmierende Zahlen des Europäischen Gewerkschaftsbund (ETUC): Mit den Preisen vom Juli gerechnet, werden Arbeiter*innen im Niedriglohnbereich mehr als einen ganzen Monatslohn für ihre jährliche Energierechnung aufwenden müssen. In Ländern wie Griechenland, Tschechien oder Italien betreffe dies auch Personen mit einem Durchschnittslohn. „Diese Preise sind einfach unbezahlbar für Millionen Menschen“, sagte die stellvertretende ETUC-Generalsekretärin Esther Lynch. „Während Energiekonzerne Rekordprofite verbuchen, müssen sich Millionen Menschen entscheiden, ob sie es sich leisten können, die Heizung anzustellen oder ihren Kindern eine warme Mahlzeit zu kochen.“
Nach der Corona-Krise erfahren die Beschäftigten in Deutschland zum zweiten Mal einen erheblichen Rückgang ihrer Reallöhne. Das zeigt eine Gegenüberstellung von Einkommensentwicklung und Inflation des Statistischen Bundesamtes. Für das zweite Quartal 2022 kommen sie zu einem ernüchternden Ergebnis: Demnach waren die Einkommen der Beschäftigten zwar nominal – also dem Betrag nach – 2,9 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Die enorm hohe Teuerung verkehrte dieses „Auf-dem-Papier-Plus“ in ein „Kaufkraft-Minus“ von 4,4 Prozent. Ein derart starker Rückgang der Realeinkommen ist in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte fast ohne Beispiel.
Bislang hielten die Menschen durch Rückgriffe auf Erspartes ihren Lebensstandard aufrecht. Doch das könnte sich ändern, wenn das Ersparte aufgebraucht ist. So kommt die Mehrheit der Bundesbürger*innen nach Einschätzung der Sparkassen zunehmend an finanzielle Grenzen. „Wir rechnen damit, dass wegen der deutlichen Preissteigerung perspektivisch bis zu 60 Prozent der deutschen Haushalte ihre gesamten verfügbaren Einkünfte monatlich für die reine Lebenshaltung werden einsetzen müssen“, erklärte Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) gegenüber der Welt am Sonntag.
Als Folge dieser Entwicklung ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass es zu „inneren Unruhen“ kommt, stellt das Risikoberatungsunternehmen „Verisk Maplecroft“ in Bath/ Großbritannien in der jüngsten Ausgabe seines „Civil Unrest Index“ fest, in der eine Unter-suchung dargestellt wird, die aktuelle globale Risiken in 198 Ländern analysierte. In „mehr als 80 Prozent aller Länder weltweit“ liege die Inflation oberhalb von sechs Prozent; die „soziökonomischen Risiken“ erreichten ein „kritisches Niveau“. Rund die Hälfte aller Länder wurden im Civil Unrest Index als Länder mit „hohem“ oder „extremem Risiko“ eingestuft. Während sich in einer wachsenden Zahl an Staaten die Bedingungen für innere Unruhen herausbildeten, könne man davon ausgehen, dass „der Ernst und die Häufigkeit von Protesten und von Arbeiter-Aktivismus sich in den kommenden Monaten weiter intensivieren“, erklären die Autoren von Veritas Maplecroft.
Die Autoren der Veritas Maplecroft-Untersuchung gehen mit Blick auf Europa fest davon aus, dass die betroffenen Regierungen versuchen werden, Unruhen mit Ausgabenprogrammen zu verhindern. Es werden „Heftpflaster“ zur Besänftigung verteilt. Auch die Berliner Ampelregierung versucht mit ihren „Entlastungspaketen“ darüber hinwegzutäuschen, dass es gerade die Leute mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind, die die Übergewinne der Konzerne per Gasumlage und drastisch erhöhten Energie- und Lebensmittelpreisen bezahlen müssen.
Dennoch zeigte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Vorstellung des „65-Milliarden-Versprechens“ zuversichtlich: Die Energieversorgung sei abgesichert und die Bürger:innen würden durch den Staat entlastet. Damit gebe es „keine Gründe für soziale Proteste“. Basta. Und sollten sich doch Leute auf die Straße wagen, dann müssen sie „dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf den Leim gegangen sein“. Hier wird ein berechtigter Protest, noch bevor er in die Gänge gekommen ist, diskreditiert.
Ungeachtet dessen wächst in ganz Europa der Widerstand gegen massive Preissteigerungen, die als Folge der Sanktionen gegen Russland auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt werden. In Frankreich haben die Gelbwesten ihre Rückkehr auf die Straße angekündigt. Auch in Großbritannien hat sich gegen die Not der Bevölkerung und die neoliberale Agenda der Tory-Regierung lauter Widerstand formiert. Seit einigen Wochen mobilisiert eine von Gewerkschafter*innen und mehreren Initiativen getragene Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist genug!) gegen die „cost of living crisis“ („Lebenshaltungskostenkrise“). Der Protest schlägt sich in zahlreichen Streiks im Nah- und Fernverkehr, bei der Post oder in Häfen nieder.
In Österreich ruft der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) in mehreren Städten unter dem Motto „Preise runter“ zu Demos „gegen die Kostenexplosion“ auf. Zu den Forderungen des ÖGB gehören ein Energiepreisdeckel, finanziert durch eine Übergewinnsteuer, wie einige europäische Länder sie bereits eingeführt haben, die temporäre Streichung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und den öffentlichen Verkehr sowie die Aussetzung der Mietpreiserhöhungen und höhere Sozialleistungen.
Auch in Deutschland wird ein „heißer Herbst“ erwartet. In Erfurt organisierten zuletzt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt und den Klimaschützer:innen „Fridays for Future“ unter dem Motto „Nicht mit uns! – Wir frieren nicht für Profite!“ die Proteste gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung. „Das, was bisher durch die Bundesregierung an Entlastungen beschlossen oder vorgesehen ist, reicht bei Weitem nicht aus«, sagte der Vorsitzende des DGB-Bezirks Hessen-Thüringen, Michael Rudolph, bei der Auftaktkundgebung in Erfurt. Wichtig sei, in der Krise das zu tun, wovor die Koalition aus SPD, Grünen und FDP bislang zurückgeschreckt sei: Reiche, Erben, Vermögende und große Unternehmensgewinne wesentlich stärker zu belasten und Gering- und Mittelverdiener zu entlasten.
Verdi hat angekündigt, Proteste zu organisieren, wenn die Bundesregierung die Menschen angesichts der massiv gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise nicht ausreichend entlaste. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sagte gegenüber dem Spiegel, man werde angesichts der steigenden Preise sich „genau Gedanken darüber machen, wie wir unserer Stimme noch mehr Gewicht verleihen in den Betrieben oder auf Demonstrationen“. Auch die IG Metall geht vor der anstehenden Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst in die Offensive. Gegenüber dpa machte ihr Vorsitzender Jörg Hofmann klar, dass man auf eine kräftige Lohnerhöhung dränge.
Die anstehenden Tarifrunden im Würgegriff von Pandemie, Inflation und Energiekrise haben es in sich. Frage: Könnten die anstehenden gewerkschaftlichen Entgeltrunden mit ihren erwartbaren Warn- und womöglich auch Erzwingungsstreiks so etwas wie der Motor einer breiteren Bewegung von Sozialprotesten sein? Eine im Frühsommer durchgeführte Beschäftigtenumfrage im Organisationsbereich der IG Metall zeigt: Die Stimmung in den Betrieben der Branche ist durchaus kämpferisch. Kein Wunder: Schließlich hatte es im April 2018 die letzte Tabellenerhöhung für die Metaller*innen gegeben. Die IG Metall konnte in den folgenden Jahren zwar eine Reihe innovativer und bedeutender Tariferfolge wie Einmalzahlungen mit Wahloptionen für zusätzliche Freizeit erzielen, aber keine tabellenwirksame Erhöhung der Grundentgelte.
Die heiße Phase der Metall-Tarifrunde fällt nach Ablauf der Friedenspflicht Ende Oktober in den Beginn der Heizperiode. Nehmen die Proteste gegen die steigenden Energiepreise zu, hätte die IG Metall die Chance, sie mit ihrer eigenen Tarifbewegung zu verbinden. Das läge durchaus nahe, denn Metaller*innen müssen genauso heizen wie andere. Die Gewerkschaft könnte damit auch ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung als demokratische Massenorganisation gerecht werden, denn wo sie das organisierende Zentrum des Protests ist, haben Verschwörungstheoretiker, AfD und extreme Rechte deutlich weniger zu melden.
Autor: Otto König