Der digitale Kapitalismus boomt. Eine innovative Geschäftsidee und schnelles Wachstum – so lautet die Erzählung der Online-Plattformen Amazon, Airbnb und Uber sowie der Lieferdienste Foodora und Deliveroo. Der Boom findet auf dem Rücken der »digitalen Tagelöhner« statt – beispielsweise jener Fahrradkuriere mit dem pinken Foodora-Rucksack bzw. der türkisen Thermobox von der Konkurrenz Deliveroo, die sich bei Wind und Wetter täglich bis zu 50 Kilometer im Sattel für die »digitalen Bestellplattformen« in den bundesdeutschen Großstädten abstrampeln.
Unternehmen wie Foodora (Eigentümer Delivery Hero) und Deliveroo organisieren ihr Geschäftsmodell über Internetplattformen: Kunden ordern über das Internet Essen bei den mit den Lieferdiensten kooperierenden Restaurants, die Bestellungen werden per App direkt an die Fahrer*innen – die sogenannten Riders – weitergeleitet, die die Lieferungen binnen kurzem den Kunden aushändigen. Für die Restaurants wie die Plattformen eine gleichermaßen vorteilhafte Konstellation: Die Gastronomiebetriebe können ohne Investitionen in einen eigenen Lieferservice mehr Kunden erreichen, die Online-Dienste wiederum kassieren prozentual vom Umsatz sowie per Gebühr von den Belieferten.
Die Unternehmen werben auf Clips um neue Fahrer mit dem Slogan, dass sie gute Verdienst-möglichkeiten bei größtmöglicher Freiheit schaffen würden: »Sie können sich jederzeit einloggen, wenn sie gerade ein bisschen dazuverdienen möchten.« Das Autonomieversprechen hat mit der täglichen Realität der Fahrrad-Kurier*innen jedoch nicht allzu viel zu tun. Tatsächlich sind die Riders so etwas wie die Vorhut eines digitalen Proletariats, dessen vermeintliche Freiheiten drastische Verschlechterungen der Arbeitsverhältnisse mit sich bringen.
Die Plattformökonomie ist ein Wirtschaftsmodell, bei dem ein Algorithmus im Hintergrund den Takt der Arbeit vorgibt, die App den Betrieb ersetzt und die Arbeitskräfte maximal flexibel angeheuert werden. »In Dienstleistungsfabriken wie Amazon kehren lückenlose Kontrolle und maschinelle Maschinensteuerung zurück in die Arbeitswelt. Was früher das Fließband war, sind heute Apps und Algorithmen«, schreiben die Soziologen Oliver Nachtwey und Philipp Staab in einer Studie über den neuen digitalen Kapitalismus.
Die »Deliver-Heros« arbeiten voll flexibilisiert – von Auftrag zu Auftrag. Feste Strukturen, vertraute Kolleg*innen, eine gemeinsame Arbeitsstätte – all das fehlt. Die Anweisung gibt die von Algerithmen gesteuerte App auf dem Handy, die den Weg zum Restaurant und von dort zum Kunden weist. »Die Algorithmen sind ein Kontrollinstrument. Weil die Fahrer immer ein Smartphone mit installierter App bei sich haben, weiß die Firma dank Geolokalisierung immer, wo man sich gerade befindet«, sagt Stefania Animento, Soziologin an der Berliner Humboldt-Universität.
Über das Satellitennavigationssystem GPS lässt sich in Echtzeit verfolgen, wo sich Zusteller*innen gerade aufhalten. Das Unternehmen kennt die Geschwindigkeit, mit der sie fahren, das Tempo, mit dem sie die Aufträge entgegennehmen und wie lange sie bei den Kunden sind. Dagegen haben die Betroffenen keinen Einblick in die Datenverwertung, die daraus resultierenden Statistiken, die insbesondere bei Deliveroo das Gehalt beeinflussen und als Druckmittel verwendet werden.
Rund 2600 Fahrer*innen sind bei Foodora in 36 Städten Deutschlands unterwegs, als Vollzeitfahrer mit bis zu 168 Stunden im Monat, als Midi- oder Minijobber*innen – in der Regel zunächst befristet. Beim britischen Konkurrenten Deliveroo arbeiten laut eigenen Angaben in 15 deutschen Städten von den 1.500 Fahrer*innen 75% als »Freiberufler«: »In den meisten Ländern, in denen Deliveroo tätig ist, bewegen wir uns klar in Richtung des freiberuflichen Modells. Wir haben hier eine Größe erreicht, die uns erlaubt, den Fahrern die Flexibilität zu bieten, die sie sich wünschen und gleichzeitig ihre Einnahmen zu maximieren und zu schützen«, so das Unternehmen gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk (13.4.2018). Fakt ist allerdings: Die einzelkämpfenden Arbeitskraftunternehmer*innen, sprich Scheinselbständigen, verdienen nur dann, wenn es gerade einen Job für sie gibt.
Hinter den ehemaligen Start-Ups, die den Riders ein »klasse« Arbeitsklima und eine »faire« Bezahlung versprechen, stehen inzwischen finanzstarke Investoren, die möglichst schnell Cash machen wollen. Entsprechend finden es die Gründer und Finanziers abstrus, dass für ihre Unternehmen die betriebliche Mitbestimmung gelten soll. Zum Unmut der Eigentümer hat das Berliner Landgericht die Delivery Hero AG, zu der das Tochterunternehmen Foodora gehört, kürzlich darauf verpflichtet, seinen Aufsichtsrat um Vertreter der Arbeitnehmerseite zu erweitern.(1)
Mit ihrem Geschäftsmodell loten die Lieferdienste aus, wie weit sich das deutsche Arbeitsrecht mit seinen jahrzehntelang bewährten Sozialstandards dehnen und der Sozialstaat schröpfen lässt. Die Online-Vermittler weigern sich, ihre Verantwortung als Arbeitgeber anzuerkennen, entsprechend stehen die Fahrrad-Kuriere »ohne arbeits- und sozialrechtlichen Schutz« da. Deshalb plädierte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann auf dem 21. Bundeskongress des DGB in Berlin dafür, dass der Gesetzgeber den Begriff des Arbeitnehmers und Arbeitgebers neu definieren müsse, damit sich u.a. die Plattformbetreiber bei Sozialbeiträgen nicht mit dem Argument davonstehlen können, sie seien nur Arbeitsvermittler und keine Arbeitgeber.
Der Plattform Deliveroo zufolge verdienen Festangestellte neun bis zehn Euro, »Freelancer« angeblich durchschnittlich 16 Euro pro Stunde. Die freien Fahrer*innen können mit diesen Beträgen jedoch nicht fest rechnen, weil sie von der Zahl, der ihnen übermittelten Aufträge abhängen. Nicht wenige Kuriere klagen über zu wenige Schichten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denn die Wartezeiten zwischen den Aufträgen bekommen sie nicht bezahlt. Konsequenz: Ohne Aufträge und im Krankheitsfall verdienen sie nichts. Obwohl das Unfallrisiko hoch, fahren viele Kuriere unversichert, da sie die Kosten für Krankenversicherung und Berufshaftpflicht nicht tragen können.
Zur schlechten Bezahlung und körperlichen Belastung kommt hinzu, dass die Fahrer*innen für ihre unverzichtbaren Arbeitsmittel – Fahrrad, Rucksack, Smartphone – sowie für die Reparaturkosten selbst aufkommen müssen. Der Verschleiß am Fahrrad ist hoch und geht ins Geld. Auch ein Radcheck – Bremsen justieren, Schrauben nachziehen, Reifen aufpumpen, putzen – nimmt Zeit in Anspruch, die den Kurier*innen nicht bezahlt wird. Erst nach viel Druck hat Deliveroo für die Fahrer*innen zumindest eine Verschleißpauschale von 10 Cent pro Luftlinie-Kilometer eingeführt und Foodora hat mittlerweile verkündet, den Kurieren eine Gutschrift von 25 Cent pro gefahrener Stunde zu gewähren, die sie beim kooperierenden Fahrradservice LiveCycle einlösen können.
Die prekarisierten Beschäftigungsverhältnisse sind ein Grund, warum Experten skeptisch sind, dass die Arbeitnehmer*innen sich in der neuen digitalen Wirtschaft so organisieren können wie die Belegschaften in Industriebetrieben. Dennoch, auch hier verbindet Unmut, führt dazu, dass Kuriere der beiden Lieferdienste anfingen, sich über WhatsApp zu organisieren, auszutauschen und Widerstandaktionen gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu planen.
Mit Hilfe der syndikalistischen Gewerkschaft der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) (2) schlossen sich die ersten Kuriere in Berlin in der »Delieverunion« zusammen, deren Aktivist*innen betonen, dass sie auch mit Kolleg*innen aus den DGB-Gewerkschaften kooperieren. So haben Kuriere beider Unternehmen in Köln mit Unterstützung der DGB-Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) einen Betriebsrat gegründet.
Inzwischen ist es gelungen, erste öffentlichkeitswirksame Protestaktionen durchzuführen. Schon im Sommer letzten Jahres haben Kuriere der beiden Unternehmen bei einer gemeinsamen Protestaktion in Berlin Forderungen an die Arbeitgeber formuliert: Übernahme der Kosten für die Arbeitsmittel durch die Unternehmen, damit die Kuriere nicht länger selbst für Reparaturen an ihren Rädern oder Smartphones aufkommen müssen; Erhöhung der Entgelte um einen Euro und eine höhere Anzahl garantierter Stunden, um zu gewährleisten, dass sie mit ihrer Tätigkeit auch wirklich über die Runden kommen können.
Währenddessen wagten Kölner Foodora-Beschäftigte mit Unterstützung der NGG die Gründung eines neunköpfigen Betriebsrats. Ein schwieriges Unterfangen, denn viele Kurier*innen haben nur befristete Verträge. Um den Betriebsrat zu unterlaufen, lässt der Lieferdienst die Verträge nach und nach auslaufen, so auch im Fall einer Betriebsrätin – was Foodora zufolge nichts mit ihrem Engagement für die Belange der Fahrer zu tun haben soll. Inzwischen klagen die Betriebsratsmitglieder in Köln mithilfe der NGG auf Entfristung.
Mitte Februar wählten sich auch Deliveroo-Riders in Köln einen Betriebsrat, der erste Deliveroo-Betriebsrat in ganz Deutschland. Davon erhoffen sich die NGG und die Fahrer Verhandlungsmöglichkeiten, etwa »über eine Verschleißpauschale der Fahrräder oder Smartphones, die meist das Privateigentum der Beschäftigten sind, über eine gerechte Verteilung von Boni-Systemen oder eine Beteiligung des Arbeitgebers bei der Bereitstellung von Winterausrüstung«.
Die »Union-Busting«-Methoden – Behinderung der Gründung von Betriebsräten und Abdrängung der Fahrradkuriere in die Scheinselbstständigkeit – waren auch der Anlass, dass der Lieferdienst im Focus der Proteste in Berlin, Köln und München unter dem Motto »Shame on you, Deliveroo!« stand. Ein beträchtlicher Haufen Schrott – abgenutzte Reifen, gerissene Ketten, durchgesessene Sättel – türmten sich am 13. April 2018 vor der Berliner Zentrale des Lieferdienstnetzwerks, als die Fahrradkurier*innen gegen die Lohn- und Arbeitsbedingungen bei Deliveroo und beim Konkurrenten Foodora demonstrierten.
»Der Aktionstag gegen Deliveroo kann nur ein Anfang gewesen sein – gerade mit Blick auf das ungleich höhere Niveau der Proteste in anderen europäischen Ländern. Eins haben wir geschafft: Deutschland auf die Protest-Landkarte der europäischen Rad-Kuriere zu setzen«, erklärte das Kölner Büro der »Aktion./. Arbeitsunrecht«. Denn auch in anderen europäischen Ländern haben sich Fahrer*innen zu organisieren begonnen. Den Anfang machten vergangenes Jahr Deliveroo-Rider mit Protestaktionen im englischen Bristol (3) – inzwischen wehren sich die Kuriere in halb Europa
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1) Das Unternehmen kündigte daraufhin an, dass die Rechtsform der Delivery Hero AG von einer Aktiengesellschaft in eine Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, kurz SE) umgewandelt und drei Arbeitnehmervertreter in den sechsköpfigen Aufsichtsrat einziehen werden.
(2) Die FAU versteht sich vor allem als Bewegung, gegründet von spanischen Anarchisten nach dem Ende der Franco-Diktatur. Die Beschäftigten sollen Basisgruppen gründen, Syndikate, und ihre Angelegenheiten möglichst betriebsnah selbst regeln, so lautet die Philosophie.
(3) Der Widerstand hat in Großbritannien dazu geführt, dass die britische Independent Worker Union (IWGB) die Kuriere des medizinischen Lieferdiensts The Doctor’s Laboratory gewerkschaftlich vertreten darf, entschied der für die Anerkennung von Gewerkschaften zuständige Ausschuss des Wirtschaftsministeriums in London.
Foto: Fahrradkuriere auf dem Weg zum Kunden – Foto: dpa