Fortschritt – für wen?

„Licht und Schatten“: Vertrag der „rot-grün-gelben Ampel“-Koalition
Fakt ist: Die künftige „rot-grün-gelbe Ampel“-Bundesregierung steht vor großen Aufgaben. Es gilt einen Beitrag zur Eindämmung der Erderhitzung zu leisten, die Modernisierung der Infrastruktur im Land voranzutreiben, die sozialen Probleme zu lösen, sowie den durch die Corona-Pandemie belasteten Staatshaushalt zu sanieren. Bewertet man den 178-seitigen Koalitionsvertrag der Ampel „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, wird sie diesem Anspruch kaum gerecht.
Mit dem Koalitionsvertrag stelle sich „die künftige Regierung der großen Herausforderung unserer Zeit: der sozial-ökologische Transformation“, so der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Nun ist es richtig ist, dass viele Themen in Richtung eines sozial-ökologischen Wandels adressiert sind. Doch völlig ungeklärt bleibt die Finanzierung der geplanten Maßnahmen. Mit einer Rückkehr zur Schuldenbremse bereits im Jahr 2023 nimmt sich die neue Bundesregierung den finanziellen Spielraum, den sie dringend braucht, um massiv zu investieren und das Land zukunftsfest zu machen.
Ein Kardinalproblem unserer Gesellschaft ist die wachsende Ungleichheit, die sozialen Sprengstoff erzeugt, ökonomische Krisentendenzen verschärftund ökologische Nachhaltigkeit verhindert. Es wäre dringend notwendig, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Das heißt: Reiche und Hyperreiche müssten stärker zur Finanzierung der Armutsbekämpfung herangezogen werden. Eine wirksame Bekämpfung der Armut kostet viel Geld, und wer sich dafür entscheidet, muss den Reichtum antasten. Will heißen: Wer tatsächlich „mehr Fortschritt“ wagen will, darf sich nicht vor einem Einstieg in eine gerechte Steuerpolitik drücken, wie es die künftigen Ampelkoalitionäre tun.
So wird es keine Vermögensteuer geben und der Spitzensteuersatz für Superreiche wird ebenfalls nicht angehoben. Der Vorsitzende der „Steuersenkungspartei für Wohlhabende“, Christian Lindner (FDP), hat sein Klientel – Ärzt*innen, Rechtsanwält*innen, Unternehmensberater*innen etc. – erfolgreich verteidigt. Die Unternehmen sollen stattdessen künftig extrem lukrative Abschreibungsmöglichkeiten erhalten, was die öffentlichen Etats in Folge der entsprechenden Steuermindereinnahmen nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um rund 40 Milliarden Euro belasten dürfte.
Sozialpolitisch wurde das Schlimmste in der Vereinbarung abgefedert, wie Mindestlohn und Rentenalter, aber in entscheidenden Punkten bleiben die Ampelkoalitionäre auf neoliberaler Spur der Vorgängerregierung. So steht am Anfang ein klassisches Tauschgeschäft. SPD/Grüne bekommen einen höheren Mindestlohn, dafür die FDP eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist positiv. Sie bedeutet eine ordentliche Lohnerhöhung für rund zehn Millionen Beschäftigte.
Was für BDA-Chef Rainer Dulger „brandgefährlich“ ist. Der erhöhte Mindestlohn würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig machen. Die Sorge von Dulger: „Eine derartige Mindestlohngrenze erzeugt eine enorme Lohnspirale nach oben.“ Doch „in Gänze ist dieser Koalitionsvertrag wirtschaftsfreundlicher als der der großen Koalition“, flötet sein Amtskollege und Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf in der Stuttgarter Zeitung. Die FDP habe „vieles durchgebracht an ihren Positionen, die schon sehr deckungsgleich sind mit Positionen der Wirtschaft, sodass wir in der Summe nicht unzufrieden sind“.
Das gilt auch für die Themen „Mini- und Midijobs“ und „flexiblere Arbeitszeiten“. Die Verdienstgrenzen bei Mini- und Midijobs sollen auf 520 bzw. 1.600 Euro im Monat angehoben werden. Damit werden für Arbeitgeber sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse noch attraktiver. In der Corona-Pandemie haben hunderttausende Beschäftigte beispielsweise im Gastgewerbe ihren Minijob verloren und keinerlei Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld erhalten. Hinzu kommt: Minijobs führen nur selten zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die meisten der 7,3 Millionen Minijobber*innen (Stand: Mitte 2021) verbleiben im Niedriglohnsektor und arbeiten weiterhin unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Vor allem für Frauen sind sie eine Falle. Der DGB fordert seit langem eine Minijobreform, mit der die kleinen Teilzeitarbeitsverhältnisse von Anfang an in die Sozialversicherung einbezogen werden.
Unter der Zauberformel „Digitalisierung“ verstehen die Koalitionäre Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Intensivierung der Arbeit. Beleg dafür ist die Absicht, das Arbeitszeitgesetz zu ändern: „Um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von (…) Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen, wollen wir Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen.“ Zwar wird im Text festgestellt, dass am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz festgehalten werden soll, doch es heißt weiter, wir wollen „eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, auf Grund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume).“
Das Rentenniveau soll dauerhaft bei 48 Prozent bleiben und der Beitragssatz für die kommende Wahlperiode bei 20 Prozent stabilisiert werden. Außerdem will die neue Regierung die Regelaltersgrenzen nicht anheben und die Erwerbsminderungsrente verbessern. Doch das wird nicht reichen. „Der Verzicht auf weitere Kürzungen macht die gesetzliche Rente nicht zukunftsfest. Und er schließt auch nicht bestehende Versorgungslücken für Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien und anhaltend niedrigen Einkommen. Nach wie vor droht vielen im Alter der soziale Abstieg“, so Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes IG Metall-Vorstandsmitglied. (Handelsblatt, 1.12.2021)
Um eine Entlastung des umlagefinanzierten Rentensystem zu erreichen, setzte die gelbe Pünktchen-Partei den Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), sprich „Aktienrente“, durch. Zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz“ werde man „in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Es geht allerdings nicht, wie vielfach behauptet, um eine generationengerechte Absicherung der Sicherungszusagen, sondern um einen ordnungspolitischen Pfadwechsel. Die BlackRock & Co-Lobbyist*innen und die Versicherungswirtschaft reiben sich die Hände.
Letztlich führt dies nur zu einer einseitigen Mehrbelastung der Beschäftigten, zu mehr Risiko und weniger Sicherheit und Verlässlichkeit in der Altersvorsorge. Deshalb ist die Weiterentwicklung der Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung, die Stabilisierung der Finanzbasis durch eine umfassende Versicherungspflicht aller Beschäftigungsverhältnisse, die Neujustierung von Beiträgen und Steuermitteln und ein angemessenes Sicherungsziel oberhalb von 48 Prozent nach wie vor unverzichtbar. Das anzupacken, hieße wirklich mehr Fortschritt wagen.
Anstatt der bisherigen Grundsicherung durch Arbeitslosengeld II, sprich Hartz IV soll künftig ein „Bürgergeld“ gezahlt werden, dabei stehe „die Achtung der Würde des Einzelnen im Mittelpunkt“. Das neu geschaffene Bürgergeld solle zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen und unkompliziert wie auch digital zugänglich sein, heißt es im Koalitionsvertrag. Die vorgesehenen Korrekturen sehen die Erweiterung des Schonvermögens, erweiterte Zuverdienste und eine großzügigere Regelung bei der Angemessenheit der Wohnung vor. Eine substanzielle und bedarfsgerechte Erhöhung der Regelsätze in Hartz IV und Grundsicherung ist nicht vorgesehen. Damit könnte manches am bisherigen System verbessert werden, doch das Hartz-IV-Sanktionsregime soll im Grundsatz erhalten bleiben, jedoch bis Ende 2022 gesetzlich neu geordnet werden.
Positiv ist, dass der Vermittlungsvorrang im SGB II abgeschafft wird und die Förderung der beruflichen Weiterbildung gestärkt werden soll. SGB II- und III-Leistungsberechtigte sollen bei beruflicher Qualifizierung künftig pro Monat ein zusätzliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro erhalten. Dies soll für sie einen Anreiz schaffen, sich weiterzubilden. Wer nach einer entsprechenden Weiterbildung nicht direkt eine Stelle findet, solle für mindestens drei Monate einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erhalten.
Ambitioniert sind auch die Ziele, allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft beste Bildungschancen zu bieten. Dazu gehört auch die „Ausbildungsgarantie für alle Jugendliche“, die nach Auffassung der Gewerkschaften und ihrer Jugend durch eine Umlage der Arbeitgeber finanziert werden muss.
Angesichts des massiven Strukturwandels beispielsweise im Zusammenhang mit der Umstellung von der Verbrennertechnik auf E-Mobilität in der Automobilindustrie ist eine Stärkung der arbeitsmarktbezogenen Weiterbildung notwendig. So ist die Einführung eines Transformationskurzarbeitergeldes vorgesehen, d.h. Beschäftigte sollen sich während der Kurzarbeit weiterbilden können und erhalten eine finanzielle Unterstützung. Desweiteren soll das Kurzarbeitergeld für Beschäftigte in Transfergesellschaften verbessert werden.
Um einen fairen Wandel der Arbeitswelt zu gestalten und die Beschäftigten dabei mitzunehmen, muss jedoch der politische Stillstand bei der betrieblichen und Unternehmens-Mitbestimmung überwunden, d.h. sie muss weiterentwickelt werden. Ein richtiger Schritt ist, die Behinderung von Betriebsratsarbeit in der Vereinbarung als Offizialdelikt einzustufen. In Zukunft kann das sogenannte „Union Bashing“ von der Staatsanwaltschaft proaktiv verfolgt werden. Denn immer mehr Unternehmen versuchen die Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten bzw. die Wahl von Betriebsräten systematisch zu verhindern.
Autor: Otto König