„Frieren für die Freiheit?“

Energie-Embargo: Von der Corona- in die Sanktionskrise
Kein Öl mehr aus Russland. Kein Gas mehr aus Russland. Sätze, mit denen sich angesichts des Ukraine-Kriegs simpel punkten lässt. Die Besessenheit mit der politische Kräfte derzeit fordern, mal eben auf die Hälfte aller Gas- sowie rund ein Drittel der bisherigen Ölmengen einfach zu verzichten und die Konsequenzen für die arbeitenden Menschen, Arbeitslosen und Rentner*innen, aber auch für die Wirtschaft völlig auszublenden, ist unerträglich.
In Talkshows werben Politiker*innen mit Parolen wie „Frieren für die Freiheit“ für geringeren Erdgasverbrauch. Es ist jedoch politisch naiv anzunehmen, wir würden Russland einen Strich durch die Rechnung machen, wenn „wir“ nur endlich bereit wären, zuhause warme Pullis zu tragen, oder wie es der ehemalige Bundespräsident Hans-Joachim Gauck pastoral formulierte: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“ Und dies nach Jahren coronamaßnahmenbedingten persönlichen Einschränkungen. Und wer ist „wir“? Herr Gauck hätte mal sagen sollen, wen er mit „wir“ meint, sich selbst vermutlich nicht. (1) Er meint vermutlich die „Normalverdiener*innen“, die zwei Drittel ihres verfügbaren Einkommens für Heizung und Mobilität ausgeben müssen, Beschäftigte im Niedriglohnbereich und Rentner*innen, die teilweise ihre Gasrechnungen nicht mehr bezahlen können und das Auto stehen lassen müssen.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) hatte schon vor Beginn der russischen Invasion gesagt: Deutschland sei im Falle von Sanktionen gegen Russland „bereit, dafür einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen“. Doch wer bezahlt diesen Preis? Die sozialen Folgen der schon heute gegen Russland verhängten Sanktionen treffen eben nicht alle gleich. Denn es gibt arme und reiche Menschen, mit wenig bzw. ausreichend oder exorbitanten finanziellen Mitteln.
Härtere Wirtschaftssanktionen sind keine geeigneten Reaktionen auf die Ukraine-Krise. Sie sind zwar im Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland geeignet als Mittel der Rache, für eine Änderung der Politik taugen sie nichts. Sie bezwecken eine Verhaltensänderung der Herrschenden eines Landes, indem man seine Bevölkerung bewusst schädigt. Doch umfassende Sanktionen sind wie Streubomben – sie treffen stets die Falschen und geben Feindbildern neue Nahrung. Die enormen Auswirkungen schädigen jedoch nicht nur die Menschen in Russland, sondern schwächen auch die Wirtschaft in Deutschland und der EU empfindlich und schädigen den internationalen Handel.
Russland ist der mit Abstand wichtigste Öl- und Gaslieferant für Deutschland. Gut ein Drittel ihres Rohöls bezieht die Bundesrepublik von dort, beim Gas ist es sogar mehr als die Hälfte. Von der in Deutschland selbst verbrauchten Gasmenge werden gut 30 Prozent zur Stromerzeugung in Großkraftwerken sowie für Fernwärme verwendet. Die anderen 70 Prozent gehen zu einem Drittel in energieintensivere Unternehmen der Industrie und zu zwei Dritteln in die Wärmeversorgung von Haushalten und Betrieben des Kleingewerbes. Dies lässt erahnen, wie immens der Effekt eines Einfuhrverbots dieser Rohstoffe aus Russland wäre. Der Stopp russischer Energieimporte brächte die Gefahr einer neuen Wirtschaftskrise in Deutschland mit sich und dies obwohl die Folgen der Corona-Krise noch nicht überwunden sind.
Kurzfristig lassen sich für Gas und Kohle aus Russland keine anderen Lieferquellen erschließen, die den Ausfall ausgleichen, so Sebastian Dullien, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), und der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Tom Krebs hin. Die Effekte bei einem Embargo wären ähnlich wie in der Coronakrise – die Wirtschaftsaktivität könnte einbrechen und die Arbeitslosigkeit hochschnellen, schätzen die Forscher. Darüber hinaus würde die Inflation nochmals kräftig anziehen.
Als Erstes betroffen wären Industriebetriebe, die ihre Produktion unterbrechen müssten. Diejenigen mit hohem Energieverbrauch müssten mit Rationierung rechnen und den Betrieb herunterfahren. Das beträfe nicht nur jene Unternehmen, die Erdgas etwa für Prozesswärme benötigen, sondern potenziell auch Stahlwerke, die russische Kohle verheizen, und Großverbraucher von Elektrizität, weil Erdgas und russische Kohle in der Stromerzeugung eingesetzt werden. So mussten zuletzt etwa Deutschlands zweitgrößter Stahlhersteller, Salzgitter bzw. die bayerischen Lech-Stahlwerke zeitweise den Betrieb einstellen, als der Erdgaspreis Spitzenwerte erreichte: Sie konnten nicht mehr konkurrenzfähig produzieren. Deshalb hob auch der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann im Handelsblatt warnend den Finger: „Ein sofortiges Embargo für Gas, Steinkohle und Öl wäre kontraproduktiv und würde Wirtschaft und Verbrauchern in Deutschland viel mehr schaden als Russland.“
Dullien und Krebs weisen auch auf die deutlich steigenden Kosten für Privathaushalte hin. Im Extremfall könnten die Mehrausgaben für Kraftstoffe, Heizung und Elektrizität mehrere Hundert Euro pro Monat betragen. (2) Die Menschen würden ihre Ausgaben für andere Dinge einschränken, was wiederum die Binnennachfrage schwächt und den wirtschaftlichen Abschwung beschleunigt. Die Einkommensverluste durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit würden die Konsumzurückhaltung noch verstärken. Zugleich würden die steigenden Energiepreise die Inflation anheizen. Es droht also ein wirtschaftlicher Abschwung verbunden mit einer hohen Inflationsrate von mehr als fünf Prozent.
Der Ukraine-Krieg wurde zum „Trojanischen Pferd“ für die Energiewende, indem vorgeschobene und halbwahre Begründungen und vermeintliche Sachzwänge angewandt werden, um die russischen Importe durch Einfuhren aus anderen Ländern zu ersetzen. Doch da gibt es ein Problem: Großbritannien, Niederlande und Norwegen können dauerhaft kaum mehr fördern als bisher schon. Die west- und nordeuropäischen Gasvorkommen erschöpfen sich zunehmend. Und es gibt Konflikte: Deutschland ist lange aus dem riesigen Erdgasfeld bei Groningen beliefert worden. Weil das jahrzehntelange Abpumpen des Gases aber immer häufiger zu Erdbeben führt, hatte die niederländische Regierung angekündigt, Mitte dieses Jahres den Förderprozess bei Groningen einstellen zu wollen. Das scheitert nun daran, dass die Bundesrepublik auf einer Fortsetzung der Belieferung besteht und sogar verlangt, deutlich mehr Erdgas aus Groningen zu erhalten als zuvor.
Bleibt also das Flüssiggas, sogenanntes Liquefied Natural Gas (LNG), das für den Transport in speziellen Tankschiffen stark heruntergekühlt werden muss. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte sich vor einigen Wochen für den Bau sogenannter LNG-Terminals an der Elbmündung bei Brunsbüttel ausgesprochen. Den Klimaschutz stellt der Grüne dafür hintenan. Denn Flüssiggas gilt als Klimakiller – vor allem, wenn es wie in den USA mittels „Fracking” gewonnen wird. Das Bundesumweltministerium stellte es 2020 auf eine Stufe mit Steinkohle.
Zu dessen größten Exporteuren von LNG zählen die Vereinigten Arabischen Emirate (3), die Habeck nach seinem Besuch in Katar ansteuerte, um die Möglichkeit von Lieferungen abzuklopfen und zu vereinbaren. Sollen nun also wirklich die russischen Gaslieferanten gegen Katar ausgetauscht werden? Ein Staat, der als Finanzier des islamistischen Terrors gilt. Und dann ist da noch die USA, die die Ukraine-Krise nutzen, um ihr schmutziges „Fracking-Gas“ in den europäischen Markt zu drücken. Dieses Verfahren ist bei Klimaschützer*innen besonders in Verruf, weil bei ihm größere Mengen des Treibhausgas Methan entweichen. Berechne man alle Emissionen mit ein, dann sei es „fast so klimaschädlich wie Steinkohle“, sagt ein Experte des Umweltbundesamts.
Auf den Punkt gebracht: Ein Importstopp für russische Energielieferungen wäre ein Selbstmord auf Raten – und dies nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Weltwirtschaft. Preiseffekte sind in globalen Märkten nicht lokal begrenzbar. Ereignisse wie der Ölpreisschock von 1973, die Revolution im Iran von 1979 oder der Golfkrieg von 1990 lösten eine weltweite Rezession aus. Es wäre mehr als naiv anzunehmen, dass dies 2022 anders sein könnte, wenn man den weltgrößten Energieexporteur einfach vom Weltmarkt abschneiden würde. Es geht nicht um die Ukraine, sondern um eine Weltwirtschaftskrise.
Autor: Otto König
Anmerkungen (1) Der ehemalige Bundespräsident erhält vom Steuerzahler einen „Ehrensold“ in Höhe von 236.000 Euro pro Jahr und zusätzlich eine Amtsausstattung in Höhe von 385.000 Euro pro Jahr.
(2) Die Bundesregierung reagiert auf die hohen Energiepreise. Die Spitzenvertreter der Koalition aus SPD, Grüne und FDP einigten sich auf eine Energiepreispauschale, Steuererleichterungen, Subventionen bei Treibstoffen, einen Einmalbonus für Familien mit Kindern, Einmalzahlungen für Empfänger von Sozialleistungen und verbilligte Tickets für den Öffentlichen Personennahverkehr. (Telepolis, 24.03.2022)
(3) Die VAE sind neben Saudi-Arabien führend in der Kriegsallianz im Jemen-Krieg. Fast 380.000 Menschenleben haben der Krieg und die Blockade des Landes laut der UN bereits gekostet, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht. In Katar werden Oppositionelle gnadenlos verfolgt, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind genauso wenig existent wie eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Arbeitsmigranten sind weitgehend rechtlos, allein auf den Baustellen für die anstehende Fußballweltmeisterschaft der Männer sind 15.000 Menschen ums Leben gekommen.