„Gas-Krise“ stellt Deutschland vor eine „Zerreißprobe“

Gewerkschaften und Sozialverbände warnen vor sozialer Spaltung
In Europa geht die Angst um – die Angst vor einem heißen Herbst. Die Gas-Krise wächst sich zu einer handfesten Wirtschaftskrise aus. Die Sanktionen gegen Russland, die die Märkte in Wallung brachten und die Preise weiter nach oben trieben, (1) drohen insbesondere die deutsche Wirtschaft in eine Krise zu stürzen.
Der dramatische Anstieg der Energiepreise, der etwa durch den Umstieg auf teureres Flüssiggas und insbesondere durch die anhaltende Drohung mit einem Öl- und Gasboykott immer weiter forciert wird, belastet die in hohem Maße energieabhängige deutsche Industrie stark. Es rächt sich, dass immer mehr Sanktionen gegen den russischen Energiesektor angekündigt und verhängt wurden, ohne die Folgen zu bedenken.
Die mit der Energiekrise verbundene weitere soziale Spaltung ruft Gewerkschaften und Sozialverbände auf den Plan. Die Gewerkschaften hatten sich schon Ende März gegen ein Gasembargo gestemmt. Bei einem zugespitzten Gasmangel sei mit einem „schnellen Zusammenbruch der industriellen Produktionsketten in Europa“ zu rechnen, sagte Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE, und verwies auf den hohen Bedarf an Erdgas in der Chemie-, Metall- und Stahlindustrie.
„Die Firmen müssten sicher hunderttausende Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken, viele Arbeitsplätze würden auf Dauer verloren gehen“, sekundierte ihm der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann Anfang Mai. Und jüngst warnte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke davor, dass der Gasmangel die Versorgung der Bevölkerung und notwendige Lieferketten in der Wirtschaft bedrohe. Die Bundesregierung müsse daher „alle Maßnahmen ergreifen, um die Beschäftigten und die notwendige Infrastruktur für die Energieversorgung Deutschlands zu schützen.“
Bei der Bundesregierung ist das angekommen. So warnte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck jüngst vor einem „politischen Albtraumszenario“. 50 Prozent der Bevölkerung liefen „auf eine Situation zu, in der sie weniger verdienen, als sie ausgeben“. Das werde Deutschland vor eine „Zerreißprobe“ stellen, „wie wir sie lange nicht hatten“. Und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte bei einem Bürgerdialog: „Die Preise werden nicht schnell wieder sinken, sondern das wird lange ein Problem bleiben.“ Dennoch fällt der Politik wenig Besseres ein, als Durchhalte- und Verzichtsparolen wie die, die Heiztemperatur in Büros und öffentlichen Gebäuden auf 19 Grad abzusenken.
Die Preisentwicklung bringt insbesondere die Niedrigverdienenden in Existenznot. Die Unsicherheit in der Bevölkerung ist aktuell größer als zu jedem Zeitpunkt in der Coronakrise, das zeigt eine Auswertung der repräsentativen Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung.

Fast ein Viertel aller Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden empfindet die eigene finanzielle Lage als „äußerst stark“ oder „stark“ belastend und hat große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation. Unter Erwerbspersonen mit Haushaltseinkommen unter 1300 Euro netto im Monat gilt dies sogar für mehr als die Hälfte. In der nächsthöheren Einkommensgruppe zwischen 1301 und 2000 Euro sind es fast 40 Prozent. Zwei Drittel der Befragten fürchten, dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, „dass sie Gefahr läuft, daran zu zerbrechen“ (Böckler-Impuls 10/2022)

Eine Studie (2) des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat ergeben, dass 52 Prozent der Erwerbspersonen in Deutschland mit Haushaltseinkommen bis 2000 Euro netto monatlich sich genötigt sehen, auf Nahrungsmittel, Getränke oder Tabakwaren zu verzichten, weil die Preise insbesondere für Energie so stark gestiegen sind. 63 Prozent geben zudem an, beim Kauf von Kleidung und Schuhen inflationsbedingt Abstriche machen zu wollen. Der akute Druck, den Konsum von Alltagsgütern zu reduzieren, nimmt zwar mit wachsendem Einkommen ab. Gleichwohl wirkt er weit in die Gesellschaft hinein. Über alle Einkommensgruppen hinweg wollen 39 Prozent der Erwerbspersonen künftig weniger Nahrungs- und Genussmittel kaufen. Bei Bekleidung und Schuhen wollen sich 53 Prozent einschränken.
„Die gegenwärtige Krise könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass der zunehmenden sozialen Spaltung zum Überlaufen bringt“, erklärte DIW-Präsident Marcel Fratzscher gegenüber dem Handelsblatt. Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich. Fratzscher warnte: „Explodierende Mieten und ein steigendes Armutsrisiko in den letzten zehn Jahren, eine Spaltung bei Bildung und Gesundheit in der Coronapandemie und nun bei der Inflation könnte Deutschland vor eine soziale Zerreißprobe stellen.“
Die Durchhalteparolen der Ampel-Koalitionäre beschwören die in der Corona-Krise eingeübten Muster: Wir müssen jetzt alle zusammenstehen! Um den „Wohlstand der Gesellschaft“ aufrechtzuerhalten, sollen die abhängig Beschäftigten ihren Beitrag leisten: 42-Stunden-Woche, Pflichtdienst für alle, höheres Renteneintrittsalter und den Gürtel enger schnallen – die Tugend der Genügsamkeit wird gepredigt. Der eifrigste Verlautbarer von Durchhalteparolen, Robert Habeck, geriert sich als eine Art Neo-Churchill. „Blood, sweat and tears – Blut, Schweiß und Tränen – verlangt er in Sachen Energie“. (Thomas Gestermann) Es ist der Versuch, die Lösung der Krise zu individualisieren.
„Wir sind nicht nur die, die Wirtschaftswunder können. Wir sind auch die, die auch mal die Zähne zusammenbeißen, wenn wir damit anderen Menschen helfen können.“ Es gehe nicht um die Furcht, das Leben könne misslingen, sondern darum, dass vielleicht ein paar Träume nicht verwirklicht werden könnten, „wo wir vielleicht nur einmal statt zweimal in den Urlaub fahren können“, predigte Ex-Bundespräsident Joachim Gauck bei Markus Lanz im ZDF.
Das ist verantwortungsloses Geschwätz angesichts der Einschätzung des Chefs der Bundesnetzagentur Klaus Müller, dass sich Gaskunden ab 2023 auf „eine Verdreifachung der Abschläge einstellen müssen“. Es sei „absolut realistisch“, dass Kunden, die derzeit 1500 Euro im Jahr für Gas bezahlen, künftig mit 4500 Euro und mehr zur Kasse gebeten werden, sagte er gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Die in Berlin Regierenden vermitteln den Eindruck, bei den Härten handele es sich um ein von Moskau auferlegtes Schicksal. Es stellt sich die Frage: Ist die Bundesregierung wirklich so machtlos, wie sie erscheinen will? Natürlich begrenzen die globale Lage, Lieferkettenprobleme ihren Handlungsspielraum. Dennoch: Es war die Entscheidung der Bundesregierung, die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb zu nehmen. Erst jüngst hat das Bundeskabinett eine Reform des „Energiesicherungsgesetzes“ beschlossen. Deren Kern ist die Möglichkeit für Gashändler, die Kosten der Energiekrise an die Verbraucher weiterzugeben. Derweil fordert BDA-Präsident Rainer Dulger die Ausrufung eines „nationalen Notstands“, um das Streikrecht der Beschäftigten einzuschränken. Innerhalb der politischen Klasse etabliert sich der Konsens, dass man jetzt hart bleiben müsse. Die Bürger:innen sollen sich nicht daran gewöhnen, dass der Staat ihnen durch die Krise hilft.
Wirtschaftsminister Habeck könnte ein Sanktions-Moratorium ankündigen, also vorerst auf weitere Strafmaßnahmen verzichten. Er könnte auch in Verhandlungen über Nord Stream 2 einsteigen – die neue, noch nie genutzte Pipeline ist angeblich voll mit Gas befüllt, sie könnte kurzfristig aushelfen. Energie- ebenso wie Mietpreise könnten gedeckelt werden. Mineralölkonzerne könnten in ihrer Preispolitik eingeschränkt werden. Doch all dies wird nicht gewollt. Die Preise auf die Bevölkerung abwälzen, ohne garantieren zu können, dass die Heizungen im Winter noch laufen werden, ist das Gegenteil von sinnvoller Krisenbewältigung.
Der DGB fordert, die staatliche Schuldenbremse weiter auszusetzen, Wohlhabende und Reiche zur Kasse zu bitten. Vorschläge dazu sind: Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Mehreinnahmen durch eine höhere Erbschaftsteuer. Dies stößt jedoch auf den Widerstand der Marktorthodoxen. Die FDP ist das Schutzschild vor staatlichen, marktregulierenden Eingriffen. Das als Fortschrittskoalition angetretene Regierungsbündnis sichert Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit.
Autoren: Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
1) An der Börse sind die Preise für Erdgas im Vergleich zum Jahresbeginn 2022 zwischen 100 und 200 Prozent gestiegen, je nach Laufzeit der Verträge. Der Preis steigt unter anderem deshalb, weil Europa riesige Mengen auf dem Weltmarkt nachfragt, die man nicht mehr in Russland kaufen will. (TAZ, 16.07.2022)
2) Jan Behringer/Sebastian Dullien: Energiepreisschock: Besonders Geringverdiener wollen Konsum deutlich einschränken. Ergebnisse aus der HBS-Erwerbspersonenbefragung, IMK Policy Brief Nr. 125, Juni 2022.