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»Gipfel der Schande«

Seit dem 1. Januar sind rund 1.600 Menschen bei dem Versuch, von der nordafrikanischen Küste auf dem Seeweg in die EU zu gelangen, ums Leben gekommen (Telepolis, 20.4.2015). Wenn es nur wenige sind, nimmt deren Schicksal kaum jemand zur Kenntnis. Schlagzeilen produzieren nur Katastrophen, wie jene, als Anfang April zunächst an die 400 und wenige Tage später über 800 Menschen ertranken.

Ursachen der Fluchtbewegung gibt es viele: Ökonomisch, ethnisch und religiös motivierte Kriege und Bürgerkriege, Hungernöte, nicht zuletzt durch Klimawandel bedingte extreme Trockenperioden, Zerfall der staatlichen wie zivilgesellschaftlicher Strukturen. Nach wie vor findet Flucht in erster Linie in regionalen Zusammenhängen statt, wie die großen Lager im Mittleren Osten, in West- und Ostafrika zeigen, exemplarisch ist Dadaab in Kenia rund 100 Kilometer hinter der Grenze nach Somalia mit einer halben Million Flüchtlingen.

Doch der Zusammenbruch der sozialen und politischen Ordnung erfasst nicht mehr nur einzelne Staaten, sondern auch halbwegs sichere Fluchtkorridore. Insofern findet eine weitere Internationalisierung der Fluchtbewegung Richtung Mittelmeer statt. Dass die EU-Regierungschefs an den Ursachen der Fluchtbewegungen tatsächlich etwas ändern, glauben wohl selbst diese nicht. Auch wenn sie dafür nicht erst nach Somalia oder Nigeria gehen müssten. Die EU-Agrarpolitik bietet ein weites Feld der Intervention, von EU-Protektionismus, Dumpingsubventionen und Lobbymacht, um auf die Förderung regional nachhaltiger Entwicklung auf dem afrikanischen Kontinent umzuschalten.

Das wird nicht geschehen. Wenn von Ursachenbekämpfung die Rede ist, meint man das Stopfen jener Fluchtwege, die nach Europa führen könnten. Man meint offene Grenzregime und Schlepper, die diese nutzen. Doch damit führt man eine weitgehend sinnlose Diskussion mit weiterem Militarisierungspotenzial.

Offizieller Ansprechpartner der EU in Libyen ist die Regierung in Tobruk; doch weder sie noch die Gegenregierung in Tripolis sind in der Lage, anerkannte staatliche Strukturen zu gewährleisten. Gegen Schlepperorganisationen müsste die EU folglich mit eigenen See- und Luftstreitkräften vorgehen – und es ist wohl das, was avisiert wird, wenn Frankreich sich im UN-Sicherheitsrat um ein entsprechendes Mandat bemüht. EU-Grenzsicherung nicht Ursachenbekämpfung ist das Ziel.

Die EU ist aber nicht nur mittelbar, sondern direkt für das Massensterben im Mittelmeer mitverantwortlich. Ihre restriktiven Asyl- und Einwanderungsregeln treiben die Menschen auf die Boote, weil sie keine legalen Wege nach Europa schafft, sondern Flüchtlingsabwehr betreibt. Und die EU ist verantwortlich für ein Grenzsicherungsregime, das die internationalen Konventionen der Seenotrettung zielgerichtet außer Kraft gesetzt hat. Die EU hätte die »Mittel und die Möglichkeiten, die Flüchtlinge zu retten, die der Hölle in Syrien und Libyen entkommen sind; aber man lässt sie ertrinken. Ihr Tod wird … in Kauf genommen; er soll abschreckend auf andere Flüchtlinge wirken« (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 8.4.2015).

Der Umgang mit dieser unmittelbaren Verantwortung ist zynisch. »Bilder von ertrinkenden Menschen sind mit den Werten der EU nicht vereinbar«, erklärt Angela Merkel. »Wir dürfen dem Massensterben im Mittelmeer nicht weiterhin tatenlos zuschauen«, sagen ihre AmtskollegInnen. Doch bereits auf dem Weg nach Brüssel Ende April änderten sich die regierungsamtlichen Diskurse und Prioritäten.

Das Ergebnis war ein »Gipfel der Schande« (Pro Asyl). Von Schutz und Hilfe für Flüchtlinge ist den Brüsseler Beschlüssen wenig zu lesen. Die fatale Entscheidung, »Mare Nostrum« – die rund 140.000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet hat – auslaufen zu lassen und durch die Grenzschutzmission »Triton« der EU-Grenzschutzagentur Frontex zu ersetzen, wurde trotz der massiven Forderungen von Flüchtlingsorganisationen nicht korrigiert. Die finanziellen Mittel werden zwar verdreifacht und erreichen damit das Niveau, das man Mare Nostrum nicht mehr zugestehen wollte. Doch dies soll nun ausreichen für doppelt so hohe Flüchtlingszahlen auf den zentralen Routen über das Mittelmeer.

Wer den aus Kriegs- und Krisengebieten fliehenden Menschen die Hilfe verwehrt und sich stattdessen hinter den vermeintlichen Ressentiments der BürgerInnen versteckt, macht sich auch der unterlassenen Hilfeleistung schuldig und verrät die humanitären Werte, die die europäischen Staaten zusammenhalten sollen. Als Friedensnobelpreisträgerin hat die EU kläglich versagt.

Wenn auch nicht überall direkt, so sind EU-Staaten doch indirekt und nicht zuletzt über Rüstungsexporte an den Kriegen im südlichen und südöstlichen Mittelmeerraum beteiligt. Die Ausplünderung der Bodenschätze durch internationale Konzerne und die damit verbundene Umweltzerstörung, die Ausplünderung der Fischgründe vor den afrikanischen Küsten durch Fangflotten oder das Überschwemmen der lokalen Märkte auf dem afrikanischen Kontinent mit hochsubventionierten Produkten der Agrarlobby entziehen den Menschen ihre Existenzgrundlagen.

Europa hat sich in der Charta seiner Grundrechte verpflichtet, die Würde aller zu achten und zu schützen. »Jeder Mensch hat das Recht auf Leben«, heißt es da zu Beginn. Dazu gehören sichere Korridore für Flüchtlinge, eine funktionierende Seenotrettung und eine großzügige Aufnahme von Schutzsuchenden. Dies zu achten, würde dem Friedensnobelpreis Sinn geben. Doch »einer EU, die dem Sterben zuschaut, sollte der Preis wieder weggenommen werden. Eine Union, die das Meer als ihren Verbündeten begreift und einsetzt, ist eine mörderische Union. « (Heribert Prantl)

Leicht gekürzter Kommentar von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg) auf www.sozialismus.de

Foto: dpa

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