Hände weg von der Renten-Altersgrenze

Neoliberale Ökonomen und Arbeitgeber wollen Renteneintrittsalter anheben
Kurz vor der Bundestagswahl im Herbst vergangenen Jahres starteten sie einen neuen Angriff auf die Renten: Den neoliberalen Ökonomen reicht die „Rente mit 67“ nicht mehr aus. So forderte der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier (CDU) eine Reform hin zur Rente mit 68. Ansonsten würden „schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025 drohen“. Die „Sozialabbau-Fraktion“ im Arbeitgeberlager legte nach: „„Wir müssen zu den Menschen ehrlich sein: Wir werden in den nächsten Jahren über ein Renteneintrittsalter von 69 bis 70 Jahren reden müssen“, verkündete Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf.
Immer wieder spielen sie wohlbekannte Melodie von der demografischen Lücke: Es gebe immer mehr Alte, deren Renten von immer weniger Jungen erarbeitet werden müssten. Dies könne nicht aufgehen, ohne dass die Rentenbeiträge ins Unermessliche steigen – so das neoliberale Credo, das so überzeugend simpel klingt, dass viele glauben, es sei überzeugend. Mit dem Spruch „Wir müssen ehrlich sein“ – wird wieder einmal die Wahrheit mit Füßen getreten.
Denn es geht nicht ums ehrlich sein oder um „Solidarität mit der jungen Generation“, sondern darum, dass die Arbeitgeberverbände, die in der „Sozialgarantie 2021“ gesetzte 40-Prozent-Obergrenze der Gesamtsozialbeiträge unter allen Umständen für allemal festzurren wollen: „40 – Kein Prozent weiter“ titelte des Gesamtmetall-Magazins „Perspektiven“ zum Jahresanfang 2021. Im Untertitel hieß es drohend : „Steigen die Sozialabgaben auf über 40 Prozent, kostet das Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum, warnen Experten.“ (1) Die These, dass Sozialversicherungsbeiträge über 40 Prozent per se ein Wettbewerbsnachteil sind und Arbeitsplätze gefährden, ist jedoch empirisch nicht nachweisbar.
Im Kern geht es um die Verteilungsfrage. Weil die Sozialbeiträge paritätisch und damit auch anteilig durch die Arbeitgeber finanziert werden, zielt der Ruf nach einer strikten Obergrenze darauf ab, dass sie sich vor der Begleichung der in der Corona-Pandemie entstandenen Kosten drücken wollen. Die Beschäftigten können dies nicht: Wollen sie bestehende bzw. künftig drohende Lücken bei der sozialen Sicherheit vermeiden, müssen sie selbst in die Tasche greifen und privat vorsorgen. Durch niedrig gehaltene Beitragssätze „gewonnene“ Euros beim Nettoentgelt müssen sie, wenn sie dies überhaupt können, bei einer privaten Versicherung teuer bezahlen: Ein Geschäft, bei dem nur die Arbeitgeber gewinnen.
Beauftragter des Bundesfinanzministers fordert Rente mit 70
Obwohl sich die rot-grün-gelbe Ampelkoalition und damit auch die wirtschaftsliberale FDP darauf geeinigt hatte, das Rentenalter nicht anzuheben, holte der Freiburger Professor Lars Feld in seiner neuen Funktion als persönlicher Beauftragter von Bundesfinanzminister Christian Linder (FDP) die alte Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter wieder hervor. „Wir haben das in meiner Zeit im Sachverständigenrat mehrmals vorgerechnet. Man würde höchstens bei einem Renteneintrittsalter von 70 Jahren enden“, erklärte Feld der ZEIT. Tatsächlich hatte sich der Ökonom Feld schon als Vorsitzender der Sachverständigenrat der Bundesregierung in der Ägide der GroKo, für die Anhebung des Renteneintrittsalters stark gemacht.
„Demografie-Katastrophe, Rentenleistung runter, Rentenalter rauf. Das ist die alte Leier, die fachlich wenig Beachtung verdient. Politisch ist sie aber höchst brisant. Sie schürt den Generationenkonflikt“, kommentiert Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, diese Vorstöße. „Wer den Babyboomer die Renten kürzt und die Altersgrenzen hochtreibt, leistet den nachrückenden Generationen einen Bärendienst.“ Denn auch deren Rente würde zur Schrumpfrente und ihre Altersgrenzen würden unrealistisch hoch sein. Für DGB- Vorstandsmitglied Anja Piel sind diese Vorschläge „völlig inakzeptabel“, da sie für viele Beschäftigte eine Rentenkürzung durch die Hintertür bedeuten.
Dass eine stabile Alterssicherung nicht eine Frage der Demografie oder der Biologie, sondern eine Frage der Ökonomie und der Politik ist, darauf verwies schon vor geraumer Zeit der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge: „Wie groß ist der gesellschaftliche Reichtum und wie verteilt man ihn auf die verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen? Wenn der erwirtschaftete Reichtum wächst und die Bevölkerung schrumpft, ist für alle mehr da.“ Zwar sei der Zeitraum zwischen Renteneintritt und dem Versterben im Durchschnitt länger, aber darin bestehe der gesellschaftliche Fortschritt. „Schließlich ist die Arbeitsproduktivität enorm gestiegen“, so Butterwegge.
Rente mit 70 – DAX-Pension mit 60
Während sich alle großen Arbeitgeberverbände von BDA, BDI bis Gesamtmetall mit Vorschlägen für einen späteren Renteneintritt der abhängig Beschäftigte überbieten, zeigt eine Auswertung der Dax-Vergütungsberichte durch die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), dass für ihr Klientel – die Vorstandsvorsitzenden – beispielsweise bei BASF, Bayer, Eon, RWE, Munich Re und Siemens für 2021 ein Renteneintrittsalter von 60 Jahren galt. Das sind keine Ausnahmen, sondern die Regel in deutschen Dax- und MDax-Konzernen. „Wenn Post-Chef Frank Appel im Mai 2023 planmäßig in den Ruhestand geht, kann er im Alter von 61 Jahren sofort über seine Pension verfügen. Zugestanden hätte sie ihm bereits mit 55 so wurde es vereinbart, als er 2008 mit 46 Jahren Vorstandschef wurde“ (WAZ, 07.02.2022)
Unverschämt hoch sind auch die Summen der Pensionszusagen für die Konzern-Vorstände wie die des mit 61 Jahren als Eon-Chef in 2021 abgetretenen Johannes Teyssen, der laut Geschäftsbericht Anwartschaften auf Pensionen im Wert von 30,8 Millionen Euro ansammelte. Auch Siemens-Chef Joe Kaeser ging vor einem Jahr mit 19,1 Millionen Euro aus Pensionszusagen und Entgeltumwandlungen in Rente. Rekordhalter ist jedoch Ex-Daimler-Chef Dieter Zetsche mit 42 Millionen Euro bei einer laut Geschäftsbericht von 2017 jährlichen Grundrente von 1,05 Millionen Euro.
Länger arbeiten – früher sterben?
Dagegen kann der sogenannte „Eckrentner“, also eine Person, die 45 Jahre lang immer Beiträge für ein Durchschnittsgehalt abgeführt hat, derzeit mit einer Regelaltersrente von 1539 Euro (alte Bundesländer), beziehungsweise 1506 Euro (neue Bundesländer) rechnen. Die tatsächlich ausgezahlte Durchschnittsrente ist aber deutlich niedriger. So bekommen rund 2,7 Millionen Rentner*innen mit mindestens 40 Jahren Versicherungszeit weniger als 1200 Euro Rente im Monat, wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage von Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch hervorgeht. Im Westen ist es bei mindestens 40 Versicherungsjahren etwa jeder Dritte, der unter 1200 Euro bleibt, im Osten betrifft es jeden Zweiten aus dieser Gruppe. Die Zahlen entsprechen dem Stand vom 31. Dezember 2020. (NTV, 20.02.2022)
Darüber hinaus zeigt die Studie „Rente und Lebenserwartung ab 65“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im Auftrag des Sozialverbandes VdK, eine enorme „Lebenserwartungsdiskrepanz“ je nach Beschäftigungsart, Einkommen und beruflicher Belastung. Die Autoren Peter Haan und Maximilian Schaller stellen fest, dass männliche Beamte statistisch gesehen nach ihrem 65. Geburtstag noch 21,5 Jahre leben, bei Arbeitern reicht es nur noch für 15,9 Jahre, also 5,6 weniger. Beim Vergleich zwischen Berufen mit hoher und niedriger Gesundheitsbelastung beträgt die Differenz immer noch vier Jahre. Bei Frauen sind die Unterschiede geringer, aber ebenfalls vorhanden.
Die DIW-Studie belegt, „dass unser derzeitiges System nicht fair ist“, so die VDK-Vorsitzende Verena Bentele. Geringverdienende Menschen, die in körperlich und psychisch belastenden Berufen arbeiten, würden im Alter deutlich schlechter gestellt als Menschen mit höheren Einkommen in weniger belastenden Berufen. (Junge Welt, 17.8.2021) Fakt ist also: Wer früher stirbt, bekommt aufs Leben gerechnet auch weniger Rente. Und das sind oft genau diejenigen, die schon pro Monat im Alter weniger ausgezahlt bekommen, weil sie weniger verdient haben. „Wird das Renteneintrittsalter erhöht, benachteiligt sie das doppelt: Zum einen bekommen sie deutlich geringere Renten. Zum anderen beziehen sie diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserwartung erheblich kürzer“, sagt Bentele.
Robert Habeck fabuliert von einem „Renteneintrittsfenster“
Weil Unternehmen schon jetzt über nicht genügend Fachkräfte jammern und das selbst verschuldete Problem aufgrund von „Ausbildungsverweigerung“ sich in den kommenden Jahren noch zunehmen wird, hat nun auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) das Thema „Anhebung der Regelaltersgrenze“ entdeckt. In einem Papier seines Ministeriums heißt es, der Fachkräftemangel werde sich in den kommenden Jahren verschärfen. Mit dem Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand werde die Zahl der Erwerbspersonen signifikant zurückgehen. Gleichzeitig würden die Digitalisierung und die Transformation hin zur Klimaneutralität den Fachkräftebedarf erhöhen beziehungsweise verändern. Deshalb müsse ein Rahmen geschaffen werden, damit Beschäftigte mindestens bis zur Regelaltersgrenze arbeiten.
Habeck sagte dem Handelsblatt „auf einer freiwilligen Basis sollte es längere Lebensarbeitszeiten“ geben können. „Man sollte flexibel länger arbeiten können. Das wäre ein doppelter Gewinn: Wer will, kann sein Wissen, sein Können, seine Erfahrung noch länger einbringen.“ Der grüne Minister geriert sich „als Lightversion eines sonst härteren Kurses der politischen Konkurrenz, heute rentenpolitisch, als eine Art FDP light“, bewertet Ines Schwerdtner den Vorschlag für ein „Renteneintrittsfenster“ (Der Freitag, 24.02.2022)
Das Argument vom Fachkräftemangel dient dazu „um politisches Versagen zu verschleiern.“ Hinter dem, was wie ein „natürlicher“ Prozess dargestellt wird, stehen jahrzehntelange Versäumnisse. Die rot-grünen Rentenreformen Anfang der 2000er Jahre und die Öffnung zur teilprivaten Rente durch „Riester“ waren erste Einfallstore des Neoliberalismus ins deutsche Renten-System. Statt notwendige, weitreichende Reformen – wie von den Gewerkschaften gefordert – zu unterstützen, will Habeck diese Tore weiter öffnen. Schlimmer als Habecks „Renteneintrittsfenster“ ist nur die von der FDP im Koalitionsvertrag festgeschriebene Aktienrente. Sie macht aus dem Ruhestand ein Anlageobjekt. Beide Vorschläge eint: Sie sind lohnenswert für die, die es sich leisten können, und ein weiterer Schritt in die Unsicherheit für alle anderen – wenn sie es überhaupt bis zur flexiblen Rente schaffen.
Solidarische Strukturreform notwendig
Statt der„FDP-light-Rhetorik“ des grünen Wirtschaftsministers, der von den Arbeitgeberverbänden sofort in den höchsten Tönen gelobt wurde, wäre der Mut zu einer solidarischen Strukturreform erforderlich. „Unverzichtbar ist die Weiterentwicklung der Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung sowie die Stabilisierung der Finanzbasis durch eine umfassende Versicherungspflicht aller Beschäftigungsverhältnisse und eine Neujustierung von Beiträgen und Steuermitteln“, heißt es im Sopo-Info der IG Metall zum Koalitionsvertrag der Ampel Moderat steigende Beitragssätze sollten dabei kein Tabu sein. Perspektivisch müsse es außerdem um ein angemessenes Sicherungsziel oberhalb von 48 Prozent gehen, um dadurch eine lebensstandardsichernde gesetzliche Rente für alle Beschäftigte zu erreichen.
Autor: Otto König
Anmerkungen
(1) Siehe auch: Katarina Grabietz/ Stefanie Janczyk „Sozialkassen nach Corona: Wer zahlt die Rechnung? Blätter 8/2021