Angesichts von Billigimporten und Überkapazitäten brauche es »Mut zur Veränderung«, verkündet der Vorstandsvorsitzende von ThyssenKrupp, Heinrich Hiesinger, als er die unterschriebene Absichtserklärung für die umstrittene Fusion mit Tata Steel, der Europasparte des indischen Weltmarktführers, verkündet. Man ergänze sich perfekt. Sollte das Joint-Venture zustande kommen, wäre dies eine historische Zäsur in der Geschichte des Stahl-Giganten: die Ausgliederung des Stahlgeschäfts, der Keimzelle des Traditionsunternehmens.
Stahl – das war einmal die »Schlüsselindustrie« des Ruhrgebiets. »Du hast ’nen Pulsschlag aus Stahl. Man hört ihn laut in der Nacht«, besang Herbert Grönemeyer seine Heimatstadt Bochum. Doch der Puls im Revier ist deutlich schwächer geworden. Die Montanindustrie hat, immer wieder tiefe Krisen durchschreitend, einen massiven Strukturwandel hinter sich. Ursache war seit den 1980er Jahren der gewaltige Abbau von Produktionskapazitäten – Stilllegung der Stahlstandorte Hattingen, Oberhausen und Rheinhausen – und damit von zehntausenden von Arbeitsplätzen. Von 1980 bis Ende 2016 ist die Zahl der Beschäftigten in der Stahlindustrie von 288.000 auf 86.000 gesunken: um 71%!
Die verabredete Fusion weckt zu Recht Zukunftsängste und stößt bei den Stahlarbeitern auf Widerstand. Der Zusammenschluss soll 4000 Jobs kosten, heißt es, wieder einmal sollen die Beschäftigten mit ihren Arbeitsplätzen die »Konsolidierung« des Konzerns bezahlen. Dies geht auch zu Lasten der betroffenen Kommunen. Dabei ist schon heute das Ruhrgebiet teilweise deindustrialisiert und der Umbau der Region geht nur mühsam voran. Die Ansiedlung neuer Unternehmen und die Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze im Revier ist alles andere als einfach. (1) Die Arbeitslosigkeit verharrt nach wie vor auf hohem Niveau. Die Folge: In keinem anderen Bundesland ist die Armut in den vergangenen zehn Jahren auch nur annähernd so stark gewachsen wie in Nordrhein-Westfalen. Im Ruhrgebiet gilt mittlerweile jede/r Fünfte als arm, das sind eine Million Menschen.
Stahlkonzerne verdienen nach wie vor Geld
Andererseits, entgegen aller apokalyptischen Beschwörungen aus den Vorstandsetagen, sind die deutschen Stahlwerke aktuell vergleichsweise gut ausgelastet. Trotz der Klagelieder über Dumping-Importe aus China sowie der hohen Arbeitskosten und Umweltauflagen in Europa, belegen die Zahlen der bundedeutschen Stahlproduzenten im 1. Halbjahr 2017, dass sie Geld verdienen könne. Die Stahlpreise ziehen seit Februar wieder an. Die Salzgitter AG berichtet für das erste Halbjahr über 16% mehr Umsatz gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Das gleiche Wachstum verzeichnet die Stahlsparte von ThyssenKrupp, die ihren Gewinn mehr als verdoppeln konnte. Sie erzielte im vergangenen Geschäftsjahr 2015/16 einen Umsatz von 7,6 Milliarden Euro und einen operativen Gewinn (bereinigtes EBIT) von 315 Millionen.
Dass das Unternehmen in den vergangenen Jahren zu Abschreibungen in Milliardenhöhe gezwungen war, hat seine Ursache in einem verantwortungslosen Missmanagement und den damit verbundenen gigantischen Fehlinvestitionen von insgesamt 12 Milliarden Euro in die inzwischen verkauften Stahlwerke in Brasilien und den USA.
Konzernumbau für höhere Profit-Margen
ThyssenKrupp-Chef Hiesinger war 2011 angetreten, das in Folge der verpulverten Fehlinvestitionen auf dem amerikanischen Kontinent angeschlagene Unternehmen als Hightech-Konzern zu profilieren. Ziel ist es, einen hoch rentablen Industriekonzern für Aufzüge, Anlagen und Autozulieferung auf die Beine zu stellen. Die Auslagerung der Stahlsparte im Ruhrgebiet ist dabei das Kernstück. Der DAX-Konzern soll unabhängiger vom volatilen Stahlgeschäft werden und die Profitmargen sollen deutlich steigen.
Schon in den vergangenen Jahren hat sich der Konzern neu aufgestellt. ThyssenKrupp erzielt heute den Großteil des Umsatzes von zuletzt 39,3 Milliarden Euro (2015/16) mit Aufzügen, Autoteilen, U-Booten, Industriegütern oder im Rohstoffhandel. Wichtige Unternehmenssparten sind »Components Technology« und »Industrial Solutions«. Zusammengenommen machen die Sparten rund ein Drittel vom Umsatz aus und beschäftigen fast 50.000 Menschen.
Mit dem Wandel zum reinen Industriekonzern habe ThyssenKrupp die Chance auf eine »revolutionäre Entwicklung«, ist der Analyst Michael Shillaker überzeugt. Für Investmentbanker mit Blick auf die Börsenkurse sei es ein logischer Schritt, dass das Unternehmen sich künftig nicht mehr mit »Krisenthemen« belaste. Vor allem der schwedische Hedgefonds Cevian, der rund 15% der stimmberechtigten Aktien der ThyssenKrupp AG hält, drängt aggressiv auf mehr Effizienz, um schneller eine höhere Rendite einstreichen zu können. Langfristige und nachhaltige Ziele des Unternehmens, geschweige denn die Sicherheit der Arbeitsplätze von Beschäftigten, sind solchen »Heuschrecken« schnurzegal.
Mit dem Makel der Steuerflucht behaftet
Nach fast zweijährigen Verhandlungen hat der Essener Industriekonzern Mitte August mit seinem indischen Konkurrenten Tata ein »Memorandum of Understanding« unterzeichnet mit dem Ziel, die europäischen Stahlsparten beider Konzern zu bündeln. Das geplante Joint Venture mit dem Namen »ThyssenKrupp Tata Steel BV«, an dem beide Unternehmen je die Hälfte der Anteile halten wollen, soll zukünftig etwa 48.000 Mitarbeiter beschäftigen, (2) einen Umsatz von 15 Milliarden Euro erwirtschaften und jährlich etwa 21 Millionen Tonnen Stahl produzieren. Beide Firmen würden sich bei diesem Zusammenschluss bestens ergänzen, so die Botschaft für die Anteilseigner. ThyssenKrupp sei stärker bei Kunden der Autoindustrie, Tata Steel bei Industriekunden aufgestellt. Das neue Unternehmen wäre der zweitgrößte europäische Stahlkonzern nach Arcelor Mittal.
Die Allianz mit Tata Steel Europe sei die einzige Möglichkeit, den tieferen Ursachen für die immer wieder aufflammende Krise der Stahlindustrie beizukommen. Ohne die Allianz mit Tata würden immer wieder neue Restrukturierungsrunden mit Stellenstreichungen drohen. »Wir wollen verhindern, dass sich die Stahl-Mannschaft zu Tode restrukturiert«, brachte Hiesinger zynisch seine Fürsorge für die Beschäftigten zum Ausdruck.
Die drei Hauptwerke in Duisburg, im niederländischen Ijmuiden und im britischen Port Talbot seien logistisch gut verbunden. Alles in allem könnten in einem ersten Schritt nach einer Fusion 400 bis 600 Millionen Euro durch Synergien jährlich eingespart werden, später durch die Integration des Fertigungsnetzwerks noch mehr. Natürlich kommen die erhofften Synergien nicht aus dem Nichts: Laut Konzernangaben könnten beim Einkauf, der Forschung und Entwicklung sowie dem Wegfall von 4000 Jobs in Verwaltung und Produktion, auf beiden Seiten annähernd gleich verteilt, Kostensenkungsprogramme gefahren werden. Die von der IG Metall befürchtete Stilllegung von Produktionskapazitäten werde es »vorerst nicht geben«.
Bei der Ankündigung von ThyssenKrupp, die Fusion werde in Deutschland »nur« 2000 Arbeitsplätze kosten, handelt es sich bestenfalls um die halbe Wahrheit. Während fast alle Medien über diese Zahl berichtet haben, blieb ein anderer Satz in der Presse-Erklärung des Vorstands unbeachtet: dass vom Jahr 2020 an das Produktionsnetzwerk des neuen Konzerns überprüft werde, und dass sich »zusätzliche Synergien aus dieser Integration zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht quantifizieren lassen«. Im Klartext heißt das, dass die tatsächlichen Bedrohungen erst ab 2020 auf die Stahlarbeiter zukommen werden.
Das neue Unternehmen ThyssenKrupp Tata Steel BV verlagert nach der Fusion den Sitz in die bei ausländischen Konzernen und Superreichen beliebte Steueroase Niederlande. Nach einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam Novib sind die Niederlande nach den Bermudas das zweitgrößte Steuerparadies. Der neue Stahlkonzern betreibt mit diesem Schritt nicht nur Steuerflucht, sondern hebelt damit auch die deutsche Montanmitbestimmung aus.
Die „rote“ Linie
Betriebsrat und IG Metall hatten anfangs eine Fusion vehement abgelehnt, weil sie befürchteten, der Zusammenschluss könnte den Abbau von tausenden von Arbeitsplätzen sowie Standortschließungen forcieren, was vor allem deutsche Standorte treffen könnte. Schließlich gibt es für den britischen Standort Port Talbot eine Bestandsgarantie für fünf Jahre, abgesichert durch Investitionszusagen, während an den deutschen Standorten lediglich betriebsbedingte Kündigungen per Betriebsvereinbarung bis 2021 ausgeschlossen sind.
Doch inzwischen lautet die Forderung: »Wir brauchen ein Zukunftskonzept, über das man gemeinsam diskutieren kann.« In diesem Zusammenhang nennen die Gewerkschafter drei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um der Fusion im Aufsichtsrat zustimmen zu können: Neben Standortgarantien und dem Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen sei der Fortbestand der Montanmitbestimmung der »Maßstab« für alle weiteren Verhandlungen über das Zusammengehen mit Tata, definiert der Konzernbetriebsratsvorsitzende Willi Segerath die »rote Linie«.
Eine gemeinsame Arbeitsgruppe – bestehend aus Konzernvertretern und Betriebsräten – soll nun unter gemeinsamer Leitung von Arbeitsdirektor Oliver Burkhard und Gewerkschaftssekretär Markus Grolms aus der Frankfurter Vorstandverwaltung der IG Metall mögliche Kompromiss-linien ausloten und eine Konsenslösung erarbeiten. Schließlich sei es »bei ThyssenKrupp immer gelungen, sozialverträgliche Lösungen zu finden«, erklärt Heinrich Hiesinger und verschweigt dabei, dass dies in der Vergangenheit trotz Montanmitbestimmung meist erst nach harten Kämpfen möglich war. Die Mitbestimmungsregeln sollen nach Angaben des Konzernchefs für die deutschen Standorte weiter gelten.
Aus Sicht der Gewerkschaftsvertreter ist es richtig, die Themen Standort- und Beschäftigungs-sicherung, Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen und Sicherung der Mitbestimmung auf allen Ebenen zum Gesprächsgegenstand zu machen. Dabei sollte jedoch bedacht werden: Eine Verlängerung der Vereinbarung über den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen über das Jahr 2020 hinaus und eine Aufstockung von Altersteilzeit-Angeboten, um den Arbeitsplatz-abbau »sozialverträglich« zu bewältigen, löst zwar die existenziellen Ängste der unmittelbar betroffenen Stahlarbeiter, sie sind jedoch keine Antwort auf die drängenden Fragen der nachwachsenden Generation nach ihrer künftigen Perspektive im Ruhrgebiet. Schließlich ist sie es, die zukünftig qualifizierte Arbeitsplätze benötigt.
Ein tatsächlich zukunftsfähiges Konzept – ein »Kompromisslösung« mit Blick auf die Entscheidung im Aufsichtsrat – müsste den Konzern verpflichten, Ersatzarbeitsplätze an den betroffenen Standorten im Revier zu schaffen.
Überarbeitete Fassung des Artikels von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg) in: Zeitschrift Sozialismus, 11/ 2017
Anmerkungen
(1) Es entstehen auch Jobs in neuen Branchen: Amazon, Zalando und DHL haben sich im Ruhrgebiet mit Zweigstellen niedergelassen, dazu sehr viele Logistiker wegen der strategisch günstigen Verkehrslage. Doch viele der neuen Jobs sind gering qualifiziert und erweitern vor allem den Niedriglohnsektor. (2) Beide Unternehmen beschäftigten rund 48.000 ArbeitnehmerInnen in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden. 27.000 sind es bei ThyssenKrupp. Das Unternehmen produziert im Jahr etwa zwölf Millionen Tonnen Rohstahl. Tata Steel Europe hat 21.500 Beschäftigte. Die Rohstahlkapazität des Unternehmens beträgt 12,5 Mio. Tonnen.
Foto: Junge Stahlarbeiter demonstrieren gegen die geplante Fusion Thyssen/Tata Foto: dpa