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„Kämpfe um Zeit“

Kämpfe um Zeit begleiten die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung seit ihrer Entstehung. 1891 als der Deutsche Metallarbeiterverband (DMV) gegründet wurde, mussten die Arbeiter in der Metallindustrie 85 bis 120 Stunden in der Woche malochen. 1899 beschlossen die Delegierten des „Internationalen Arbeiterkongresses“ in Paris, dass der „Acht-Stunden-Tag“ gesetzlich eingeführt werden muss. Im Zentrum der Debatte stand der Slogan „Acht Stunden arbeiten, Acht Stunden schlafen, Acht Stunden Freizeit und Erholung“.

Die Verkürzung des Arbeitstages von 16, auf 14, 12, 10 und schließlich auf acht Stunden stand jahrzehntelang im Fokus hart geführter Arbeitskämpfe. So streikten 1903 im sächsischen Crimmitschau sechs Monate lang die TextilarbeiterInnen für den „Zehn-Stunden-Tag“. Es gehört zu den wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften, dass 1918 in Folge der Novemberrevolution in Deutschland die tägliche Höchstarbeitszeit erstmals „gesetzlich auf acht Stunden“ begrenzt wurde.

Die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände liefen damals wie heute gegen die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit Sturm. Im historischen Zeitverlauf änderten sich nur die Argumente ihrer Ablehnung: Hieß es in den 1920er-Jahren, die Verlängerung der Arbeitszeit sei „zur Gesundung der deutschen Wirtschaft“ notwendig, argumentierte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) im vergangenen Jahr mit der zunehmenden »Digitalisierung« im Arbeits- und Wirtschaftsgeschehen“, um von der Bundesregierung die Streichung des Acht-Stunden-Tages aus dem Arbeitszeitgesetz zu verlangen.

 

Foto_Acht-Stunden-Chronometer

„Das Tor zur 40-Stunden-Woche ist aufgestoßen“

Es dauerte fast 40 weitere Jahre bis es den IG MetallerInnen gelang, die 48-Stunden-Arbeitswoche zu knacken. In seinem Grundsatzprogramm forderte der DGB 1952 die stufenweise Durchsetzung der
40-Stunden-Woche an fünf Tagen in der Woche. Am 1. Mai 1956 lautete die Losung: „Samstags gehört Vati mir!“ Schließlich konnte die metall-Zeitung am 20. Juni 1956 verkünden: „Das Tor zur 40-Stunden-Woche ist weit aufgestoßen“.

Der IG Metall setzte ab 1. 0ktober 1956 die Verkürzung der Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden mit einem Lohnausgleich von 6,5 Prozent in der Woche durch. Die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit ging stufenweise weiter: 43 Stunden (1962), 42 Stunden (1963), 41 Stunden (1964). Im Jahr 1965 ist das Ziel, für das mehrere Generationen gekämpft haben, erreicht: Die 40-Stunden-Woche an fünf Arbeitstagen. Gleichzeitig gelingt die Zahl der tariflichen Urlaubstage von 12 Tagen in 1949 auf 20 Tagen in 1967 und 30 Tagen in 1982 zu steigern.

„Statt Arbeitslosigkeit für viele –  Arbeitszeitverkürzung für alle“

In den 1970er-Jahren heißt es: „Arbeitszeit verkürzen – Arbeitsplätze sichern und neue schaffen“. Denn seit der Wirtschaftskrise 1974/75 gehört die Massenarbeitslosigkeit wieder zum Alltagsbild der Bundesrepublik. Insbesondere in der Stahlindustrie erfolgte ein schwerer Einbruch. Von Mitte 1960 bis Mitte 1970 wurden 140.000 Arbeitsplätze vernichtet. Auf der Thyssen Henrichshütte in Hattingen, in der noch rund 8.000 ArbeitnehmerInnen beschäftigt waren, kam es zum Abbau von 700 Arbeitsplätzen.

1978/79 kam es in der Stahlindustrie zum ersten Arbeitskampf für die 35-Stunden-Woche. Nach dem Scheitern der Verhandlungen sprachen sich Ende November 1978 in der Urabstimmung 86,96 Prozent der Stahlarbeiter für Streik aus. Von den 6.229 stimmberechtigten IG Metallern auf der Henrichshütte stimmten 83,77 % mit JA für den Streik. Die Arbeitgeber antworteten mit dem „Schandmittel der Aussperrung“.

„Wer aussperrt – gehört eingesperrt, schallte es Mitte Dezember durch die Hattinger Innenstadt, wo auf dem Untermarkt der IG Metall-Bevollmächtigte Richard Vaupel 6.000 Metall- und Stahlarbeiter begrüßen konnte. Hans Preiss, IG Metall-Vorstandsmitglied, erklärte: „Wir stellen heute (auf 30 Kundgebungen) der Provokation der Stahlbosse den entschlossenen Kampfeswillen der arbeitenden Menschen entgegen.“

Nach fast sechs Wochen Streik kam Anfang Januar 1979 eine Vereinbarung mit den Stahlarbeitgebern zustande: Neben der Freischichtenregelung für Nachtschichtler und ältere Arbeitnehmer, der Erhöhung der Löhne und Gehälter um 4 Prozent wurde für alle in Stufen 30 Tage Urlaub vereinbart, der 1982 erreicht war. „Zufriedenstellend ist das Ergebnis nicht. Doch der Panzer rollt weiter in Richtung 35-Stunden“, kommentierte Willi Koch, Betriebsratsvorsitzender der Henrichshütte, den Stahlkompromiss im Lokal Diergardt.

 Foto _Wstr O&K_18.03.1984_IGM Archiv

Der Kampf um die 35-Stunden-Woche

Anfang der 1980er-Jahre deuteten alle Prognosen daraufhin, dass bis zum Ende des Jahrzehnts die Zahl der Arbeitslosen auf vier Millionen ansteigen würde. Die Gewerkschaften standen vor der Alternative: Massive Verkürzung der Arbeitszeit oder weiter steigende Massenarbeitslosigkeit. Die IG Metall und die IG Druck und Papier entschieden sich, den Kampf um die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche aufzunehmen.

»Keine Minute unter 40 Stunden«, tönte es aus dem Arbeitgeberlager. Gesamtmetall erklärte die Verkürzung der Arbeitszeit zum Tabu. Schützenhilfe bekamen sie von der schwarz-gelben Bonner Bundesregierung. Bundeskanzler Helmut Kohl tönte, die Forderung nach der 35-Stunden-Woche sei »dumm, dreist und töricht«. Es bahnte sich die härteste Tarifauseinandersetzung in der Geschichte der IG Metall an. Deshalb war es notwendig die Tarifrunde intensiv vorzubereiten.

Die Ortsvorstände der beiden IG Metall Verwaltungsstellen Gevelsberg und Hattingen beschlossen schon im Herbst 1983 „Aktionsprogramme zur Information und Mobilisierung der Mitglieder“. Dazu gehörte: die Durchführung von 2 ½ Tagesseminaren für Betriebsräte und Vertrauensleute zum Thema „35-Stunden-Woche“, die Verteilung von Flugblättern „Kollegen fragen – Kollegen antworten, in denen VK-Leiter und BR-Vorsitzende zu Unternehmerargumenten Stellung nahmen, die sporadische Herausgabe einer „35-Stunden-Wochen-Zeitung“, Info-Stände zur Information der Bevölkerung, Kindermalwettbewerbe und Vertrauensleutevollversammlungen mit Familienangehörigen.

Zu ersten Warnstreiks kam es in beiden Verwaltungsstellen Mitte März 1984: In Sprockhövel verliehen 600 Beschäftigte der Bergbauzuliefer-Betriebe Hausherr, Turmag, Hauhinco und Düsterloh ihrer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung Nachdruck und demonstrierten zur IGM-Kundgebung an der Hauptschule an der Kirche mit dem Zwiebelturm. In Hattingen warnstreikten die Beschäftigten von Orenstein & Koppel.

Am gleichen Tag machten in Gevelsberg die Peddinghäuser und Dieckerhoffer ihrem Unmut Luft und legten die Arbeit nieder. Während Werner Engelhardt eine Resolution an die Geschäftsführung verlas, skandierten die Kollegen: „Unternehmer, schlaft Ihr noch? Hört ihr die IG Metaller? 35-Stunden-Woche!“ Bei Hesterberg an der Heilenbecker Straße in Ennepetal verlas der Vertrauenskörpervorsitzende Burkhard Stein die Resolution, die Annahme lehnte der Chef Günther Dörken nach dem 45-minütigen Warnstreik ab.

Anfang April zeigten KollegInnen und Kollegen bei August Bilstein, Ferdinand Bilstein und Gebrüder Halverscheid (GHV) in Ennepetal und der Knorr-Bremse in Volmarstein, dass sie es mit der „35-Stunden-Woche“-Forderung ernst meinen. Über 600 Frauen und Männer konnte der Gevelsberger IG Metall-Bevollmächtigte Hans Hirsch Mitte April im Haus Ennepetal zu einer Solidaritätsveranstaltung begrüßen: „Langer Atem ist notwendig, wir kämpfen weiter“.

Fast zur  gleichen Zeit erklärte der Hattinger IG Metall-Bevollmächtigte Otto König vor 1.500 Warnstreikenden auf dem Untermarkt: „Entweder wird jetzt die arbeitsmarktpolitische Wende von unten eingeleitet, oder es geht mit Volldampf zurück in die sozialpolitische Steinzeit.“ Mit dabei die „Betriebsbesetzer“ von Mönninghoff und Abordnungen der Stahlarbeiter.

Nachdem die Verhandlungen scheiterten, stimmten Anfang Mai mehr als 80% der IG Metall-Mitglieder in Nordwürttemberg/ Nordbaden und Hessen für Streik. In 14 schwäbischen und badischen Automobil-Zuliefererbetrieben traten 13.000 und eine Woche später 33.000 MetallerInnen in Hessen in den Ausstand. Die Metallarbeitgeber konterten mit der »heißen« Aussperrung: 155.000 Beschäftigte warfen sie auf die Straße. Zusätzlich nutzten sie außerhalb der Kampfgebiete wie in NRW die „kalte“ Aussperrung als politisches und ökonomisches Druckmittel.

Normalerweise zahlte die Bundesanstalt für Arbeit (BfA) bei streikbedingtem Produktionsausfall Kurzarbeitergeld. Doch am fünften Streiktag verkündete BfA-Chef Heinrich Franke, „dass ein Leistungsanspruch nach § 4 der Neutralitätsanordnung ruht“. Mit Rückendeckung des Bundes-arbeitsministers Norbert Blüm wurde eine zweite Front gegen die Streikenden eröffnet. Die Arbeitsämter verweigerten den „kalt“ Ausgesperrten das ihnen zustehende Kurzarbeitergeld.

Damit standen rund 500.000 heiß und kalt Ausgesperrte vor den Fabriken – zehnmal so viele wie Streikende. Die IG Metall klagte vor zahlreichen Sozialgerichten gegen diesen eklatanten Rechtsbruch. Ende Juni erklärten die Landessozialgerichte in Bremen und Hessen den »Franke-Erlass« für rechtswidrig. Die Arbeitsämter mussten das Kurzarbeitergeld auszahlen.

Mitte Mai kam es zu Solidaritätsstreiks, dazu aufgerufen hatten die damals noch 17 DGB-Gewerkschaften und am 28. Mai 1984 demonstrierten rund 250.000 Metaller und Drucker aus ganz Westdeutschland im Hofgarten in der Bundeshauptstadt Bonn gegen die Aussperrung. Unter ihnen über 500 IG MetallerInnen aus Betrieben in den beiden Verwaltungsstellen Gevelsberg und Hattingen. Zwei Tage später probten Tausende Beschäftigte im Ennepe-Ruhr-Kreis den „7-Stunden-Tag“ als Vorgeschmack auf die Arbeitszeitverkürzung. Und Mitte Juni fuhren Hattinger und Sprockhöveler Funktionäre nach Markgröningen und standen solidarisch vor der Firma Mahle Streikposten.

Am 27. Juni kam es nach dem Schlichterspruch des ehemaligen Verteidigungsministers Georg Leber (SPD) zur Einigung im Arbeitslkampf. In der zweiten Urabstimmung stimmten die am Arbeitskampf Beteiligten mit 54,52% dem »Leber-Kompromiss« zu: Die Arbeitszeit wurde zunächst auf 38,5 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich verkürzt. Die 35-Stunden-Woche trat endgültig 1995 in Kraft. Das Arbeitgeber-Tabu der 40-Stunden-Woche war gebrochen. Die Koalition aus Kapital und Kabinett musste eine empfindliche Niederlage einstecken.

Arbeitszeitkampagne „Mein Leben – meine Zeit“

30 Jahre nach der Debatte um Arbeitszeitverkürzung, nach 30 Jahren fortschreitender betrieblicher Flexibilisierung und zunehmender Leistungshetze, setzt die IG Metall das Thema  mit der neuen Arbeitszeitkampagne. „Mein Leben – meine Zeit: Arbeit neu denken“ wieder auf die tarifpolitische Agenda. „Wir wollen Lösungen finden für sichere Arbeitszeit, die für jeden planbar ist, aber auch für gerechte Arbeitszeit, bei der geleistete Arbeitszeit vergütet wird“, sagte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann in der Feierstunde anlässlich des 125-jährigen Bestehens in der Frankfurter Paulskirche Anfang Juni 2016.

Die Kampagne, die in die Metall-Tarifrunde 2018 münden soll, zielt auf die Rückgewinnung der persönlichen und gewerkschaftlichen Deutungs- und Handlungshoheit über die Arbeitszeit. Wer über die Arbeitszeit bestimmt, bestimmt auch über die Lebenszeit: Diese Erkenntnis war auch die Triebkraft, warum sich die Metallarbeiter am Ende des 19.Jahrnunderts auf den langen Weg der Arbeitszeitverkürzung machten.

Der Text stützt sich u.a. auf folgende Quellen:

IG Metall Vst. Hattingen (Hrsg.), Dokumentation „Streik und Aussperrung in der Eisen- und Stahlindustrie“; Februar 1979
IG Metall Vst. Gevelsberg, Geschäftsbericht 1984-86
IG Metall Vst. Hattingen, Geschäftsbericht 1981-83 und 1984-86

Foto 1: Transparent „Stahlarbeiter kämpfen für die 35-Stunden-Woche“- Künstler: KURO
Foto 2: Abbildung „Arbeiter-Chronometer – Acht-Stunden-Tag“
Foto 3: Warnstreik der Kollegen von Orenstein & Koppel für die 35-Stunden-Woche im März 1984 – Foto: IGM GH-Archiv)

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