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Keine „tarifpolitische Agonie“

WSI-Arbeitskampfbilanz 2020: Streiks unter Pandemie-Bedingungen

Als im vergangenen Frühjahr in der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Furcht vor den steigenden Infektionszahlen des neuartigen Covid-19 Virus zunahm, wurde auch die Tarifpolitik der Gewerkschaften vor besondere Herausforderungen gestellt. Nachdem zur Bekämpfung der Pandemie im März 2020 ein umfassender Lockdown verordnet wurde, erlebte die deutsche Wirtschaft einen historischen Einbruch, bei dem das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im zweiten Quartal 2020 um fast 10 % zurückging. Die gewerkschaftlichen Interessenvertretungen waren mit den Fragen konfrontiert, wie sie in Zeiten der wirtschaftlichen Krise und unter „social distancing“- und Homeoffice-Bedingungen, in den anstehenden Tarifrunden die gewerkschaftlichen Forderungen durchsetzen sollten? Schließlich müssen Gewerkschaften in Tarifbewegungen glaubwürdig mit Arbeitskämpfen drohen können, wenn die Tarifverhandlungen mit den Arbeitgebern nicht zu „Bittsteller“-Veranstaltungen werden sollen.

Hinzu kam, dass in der ersten Corona-Welle im Frühling des vergangenen Jahres sich zeitweilig sechs Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit befanden. Dies alles hatte zur Folge, dass in zahlreichen Branchen der Focus der Verhandlungen nicht auf Erhöhung der Entgelte, sondern auf dem Abschluss von „Krisentarifverträgen“ gelegen hatte, die sich darauf konzentrierten, Beschäftigung zu sichern und das gesetzliche Kurzarbeitergeld aufzustocken. „Unter den Bedingungen eines umfassenden gesellschaftlichen Lockdowns wurden im Frühjahr viele Tarifverhandlungen zunächst ausgesetzt. Hierbei gab es eine Art `Streikpause´ bei der – von sehr wenigen Einzelfällen abgesehen – für einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten sämtliche Arbeitskampfmaßnahmen eingestellt wurden“, so Thorsten Schulten, Heiner Dribbusch und Jim Frindert in ihrer WSI-Analyse für das „Arbeitskampfjahr 2020“. (1)

Besonders stark war der wirtschaftliche Einbruch zunächst in vielen Industriebranchen, die zum einen unter teilweise erheblichen Störungen in den internationalen Lieferketten und zum anderen unter dem massiven Einbruch der (Export-)Nachfrage gelitten haben. Was unter anderem dazu führte, dass sich die Tarifkontrahenten in der Metall- und Elektroindustrie

im Rahmen eines „Solidar-Tarifvertrages“ auf den Abschluss eines „Krisenpaketes“ verständigten, in dem die bestehenden Entgelte bis Ende 2020 wieder in Kraft gesetzt und zugleich betriebliche Aufstockungsregelungen zum Kurzarbeitergeld sowie zusätzliche Betreuungstage für Beschäftigte mit Kindern vereinbart wurde. Auch in weiteren Branchen standen tarifvertragliche Regelungen zur Kurzarbeit und zur betrieblichen Aufstockung von Kurzarbeitergeld im Vordergrund.

Quelle: WSI/ Hans-Böckler-Stiftung

Doch trotz der schwierigen Rahmenbedingungen sind die Gewerkschaften nicht in eine tarifpolitische Agonie abgeglitten, stellt der WSI-Report fest: In der Tarifrunde 2020 wurden von den DGB-Gewerkschaften für insgesamt 10 Mio. Beschäftigte neue Tarifabschlüsse vereinbart. Weitere 8,8 Mio. Beschäftigte profitierten 2020 von Abschlüssen, die bereits 2019 oder früher vereinbart worden waren. Und mit rund 342.000 ausgefallenen Arbeitstagen lag das Arbeitskampfvolumen nur knapp unter dem Niveau von 2019 (360.000). Die Anzahl der an Arbeitskämpfen beteiligten Arbeitnehmer: innen lag mit 276.000 sogar leicht oberhalb des Vorjahres (270.000), haben die WSI-Wissenschaftler der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ausgerechnet.

Für 2020 zählten die WSI-Forscher 157 Arbeitskämpfe, wobei die große Mehrheit, rund 85 Prozent, im Rahmen von Auseinandersetzungen um Haus-, Firmen oder Konzerntarif-verträgen stattgefunden haben. Der hohe Anteil ist nach der vorgelegten Analyse auch ein Ergebnis der „Zersplitterung“ des Flächentarifvertragssystems, dem sich viele Unternehmen durch „Tarifflucht“ zu entziehen versuchen. Eine Folge der unseligen Propaganda der Arbeitgeberverbände, die existierenden Tarifverträge seien zu unflexibel. Zugenommen hatten auch die Auseinandersetzungen zur Durchsetzung von „Sozialtarifverträgen“ mit denen die wirtschaftlichen Auswirkungen für Beschäftigten bei Betriebsschließungen abgemildert werden sollen. Doch was die Zahl der Streikbeteiligten und der ausgefallenen Arbeitstage betrifft, fallen solche betrieblichen Auseinandersetzungen meist weitaus weniger ins Gewicht als branchenweite Konflikte mit umfangreichen (Warn-)Streikwellen.

Nach den weitreichenden Lockerungen der Corona-Maßnahmen im Frühsommer 2020 erholte sich die wirtschaftliche Entwicklung deutlich, bevor es ab November durch die erneuten Corona-Einschränkungen wieder zu einem aber vergleichsweise milden Rückgang kam. Und es wurde offensichtlich, dass auch unter Pandemie-Bedingungen die Interessen- und Verteilungskonflikte nicht verschwinden, sondern sich im Gegenteil sogar noch verschärfen. Die noch anstehenden Tarifrunden nahmen wieder an Fahrt auf. Allen voran Pflegekräfte und Beschäftigte von Gesundheitsämtern forderten höhere Löhne ein. Die Pandemie habe gezeigt, dass ihre Tätigkeiten „systemrelevant“ sind, so ihre Argumentation. Im Rahmen der ver.di-Tarifrunde des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen kam es zum umfangreichsten Arbeitskampf: Ab dem 22. September liefen mehrere Warnstreikwellen durch das gesamte Bundesgebiet. Während die öffentlichen Arbeitgeber die Warnstreiks mitten in der Pandemie als fehl am Platz bewerteten, überwog Umfragen (2) zufolge der Zuspruch in der Bevölkerung. Am Ende holten ver.di gemeinsam mit den Warnstreikenden ein kräftiges Lohnplus für die Beschäftigten heraus – nicht trotz, sondern eher wegen des Coronavirus.

Überregionale Arbeitskämpfe hat es auch im Öffentlichen Nahverkehr sowie in der ostdeutschen Ernährungswirtschaft gegeben. Die Gewerkschaft NGG setzte sich mit den Beschäftigten in den neuen Bundesländern dafür ein, den erheblichen Rückstand bei der Bezahlung gegenüber den westdeutschen Tarifverträgen in zu verringern. Die im Frühjahr 2020 begonnenen Warnstreiks zur Unterstützung der Tarifverhandlungen wurden zwischen März und Juni 2020 zeitweilig ausgesetzt, um die Nahrungsmittelversorgung während der ersten Pandemiewelle sicherzustellen, jedoch während der Corona- „Entspannungsphase“ im Sommer wieder aufgenommen. Der Arbeitskampf in der ostdeutschen Ernährungs-wirtschaft ist für das WSI „ein Paradebeispiel für eine offensive Tarifpolitik im Niedriglohn-segment“. Es konnte die stufenweise Angleichung der Beschäftigungsbedingungen an das West-Niveau erreicht werden, was der IG Metall ein Jahr später in der Metallindustrie aufgrund der beharrlichen Verweigerungsstrategie der Metallarbeitgeber versagt geblieben ist.  „In manchen Betrieben entspricht das einer Entgeltsteigerung von bis zu 30 Prozent innerhalb von dreieinhalb Jahren“, heißt es in dem WSI-Report.

Neue Arbeitskampfmethoden: Mit Maske und Abstand

Die Pandemie hatte auch die Bedingungen für die praktische Durchführung von Arbeits-kämpfen erheblich verschlechtert. Während die Arbeitgeber auf den Mobilisierungs-Hemmschuh Pandemie setzten, mussten sich die Gewerkschaften schnell an die neuen Bedingungen anpassen und unter Berücksichtigung behördlicher Hygienekonzepte und Abstandsregeln neue Mobilisierungs- und Streikformate kreieren. Es gelang Corona konform zu „warnstreiken“– per Frühschluss-Aktionen, begleitet von Präsenz-Kundgebungen unter Beachtung von Abstandsregelungen und Masken sowie durch öffentliche Versammlungen im Autokinoformat, bei denen die Teilnehmer: innen in ihren Fahrzeugen sitzen blieben. Ergänzt wurden diese Aktionsformen durch Autokorsos und Menschenketten sowie digitalen Warnstreiks, bei denen sich die Betroffenen in Livestreams einwählten, während der „E-Mail-Abwesenheitsassistent“ die automatische Antwort produzierte: „Hallo Kollegen und Kolleginnen, aktuell befinde ich mich im Warnstreik. Mein Tipp: Lass‘ das Arbeiten für heute sein und beteilige dich auch am Streik, damit wir unsere Forderungen durchsetzen können.“ Die WSI-Forscher schlussfolgern deshalb in ihrem Report: Unter dem Strich sei es den Gewerkschaften „gut gelungen, auch unter Pandemiebedingungen ihre Arbeitskampffähigkeit unter Beweis zu stellen.“

Tatsachlich gelang es die Gewerkschaften ver.di und NGG in 2020 und die IG Metall in 2021, per „Online-Warnstreik“ Druck zu entfalten und vertretbare Ergebnisse zu erzielen. Dennoch müssen die phantasievollen Aktionen, die kämpferisch beeindruckende Bilder produzierten, realistisch eingeschätzt werden: Damit konnte nicht der gleiche wirtschaftliche Druck auf die Kapitalseite bzw. die öffentlichen Arbeitgeber aufgebaut werden, wie durch die Präsenz von Warnstreikenden auf und vor dem Betriebsgelände bzw. vor Rathäusern und Kliniken sowie bei Demonstrationen und Kundgebungen bis hin zu „24-stündigen-Warnstreiks“. Nur wenn Gewerkschaften Massen mobilisieren, sie Betriebe lahmlegen können, haben sie Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht. Nur so findet, wenn überhaupt, ansatzweise ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen von Kapital und Arbeit statt.

Ausblick auf 2021

In ihrer Arbeitskampfbilanz für 2020 machen Schulten, Dribbusch und Frindert auch einen Ausblick auf das laufende Jahr 2021. Die Frage, „wer denn die Kosten der Pandemie trägt, (rückt) immer mehr in den Mittelpunkt und prägt damit auch die Verteilungskonflikte zwischen den Tarifvertragsparteien“, analysieren die Forscher. Zusätzliche Komplexität entstehe dadurch, dass es wichtigen Branchen oder zumindest Teilen davon trotz Pandemie wirtschaftlich wieder gut gehe. Exemplarisch zeigte sich die zunehmende Konfliktintensität bereits in den Tarifverhandlungen in den ersten Monaten des Jahres 2021 in der Metall- und Elektroindustrie.

Gesamtmetall und die regionalen Metallarbeitgeberverbände wollten die Pandemie erneut zur Profitmaximierung nutzen und forderten unisono eine Nullrunde. Dennoch startete die IG Metall mit der Forderung nach vier Prozent mehr Geld in die Tarifrunde 2021, wobei das Volumen je nach wirtschaftlicher Situation in den Betrieben für Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung oder für Entgeltsteigerungen genutzt werden konnte. In Zukunftstarifverträgen sollte eine Mitgestaltung der Betriebsräte und der Gewerkschaft beim strukturellen Wandel in der Industrie festgeschrieben werden. Die Warnstreiks von rund einer Million Metaller*innen haben schließlich dazu beigetragen, die Blockade der Metallarbeitgeber zu durchbrechen. Sie mussten ihre Forderung nach einer „Nullrunde“ ebenso vom Tisch nehmen, wie eine „generelle automatische Absenkung von Tarifen“ nach betrieblichen Kennzahlen. Die neuen Tarifverträge für rund 3,9 Millionen Beschäftigten enthalten neben einem relativ bescheidenen Entgeltzuwachs auch innovative Elemente, mit denen sich die „Transformation“ besser partizipativ gestalten ließe, wenn die Arbeitgeber mitspielen. (3)

Bereits diese Zahl von Teilnehmer: innen an Warnstreiks deute darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen im Jahr 2021 deutlich größer als im Vorjahr ausfallen dürfte, heißt es im WSI-Report. Denn im Laufe des Jahres kommen weitere Tarifrunden im Einzelhandel, im Groß- und Außenhandel, im Bauhauptgewerbe und im Öffentlichen Dienst bei den Ländern hinzu, die laut WSI erhebliche Konfliktpotentiale in sich bergen und höchstwahrscheinlich auch mit Arbeitskampmaßnahmen einhergehen werden. Nicht zuletzt seien auch 2021 zahlreiche Konflikte auf betrieblicher Ebene absehbar, „bei denen sich die Beschäftigten der anhaltenden Tarifflucht und Tarifverweigerung von Unternehmen entgegenstellen.“

Autoren: Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Mitarbeiter von Sozialismus.de (Hamburg)

Anmerkungen

(1) Jim Frindert, Heiner Dribbusch, Thorsten Schulte „WSI ARBEITSKAMPFBILANZ 2020 Streiks unter den Bedingungen der Corona-Pandemie“, Report April 2021.
(2) Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Mediengruppe RTL kam im September 2020 zum Ergebnis, dass 63 Prozent der Befragten Verständnis für den Einsatz von Warnstreiks in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst hatten. Gleichzeitig sprachen sich 78 Prozent dafür aus, dass Pflegekräfte ein besonderes Gehaltplus erhalten sollen.
(3) Siehe auch: Otto König/ Richard Detje „Tarifpolitik: Corona-Krise hinterlässt Spuren“, in: Sozialismus 5/2021

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