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Lockerungen im Arbeitszeitgesetz verhindern

WSI-Studie: Flexible Arbeitszeiten – Begrenzung ist notwendig

„Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ ist der „Koalitionsvertrag 2021 – 2025“ zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP) überschrieben.

Einer der Punkte im Kapitel „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ lautet: „Um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen, wollen wir Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen.“

Im Text wird zwar festgestellt, dass am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz festgehalten werden soll, doch es heißt weiter: „Außerdem wollen wir eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, auf Grund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume).“

Seit geraumer Zeit wird eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeit von verschiedenen politischen Akteuren gefordert, jedoch mit unterschiedlicher Stoßrichtung: Die Gewerkschaften, die Grünen, die SPD und die Linken fordern, die Stärkung der Zeitsouveränität, d. h. der Selbstbestimmung der Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit. Arbeitgeberverbände und die FDP zielen dagegen darauf ab, das Arbeitszeitgesetz zu lockern, um längere tägliche Arbeitszeiten durchsetzen zu können. In den Koalitionsverhandlungen ist es der FDP gelungen, eine Bresche für ihr Klientel – die Arbeitgeber*innen – zu schlagen.

Zusätzliche Belastungen für Beschäftigte

Wenn Schutzvorschriften zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit geschwächt werden, so wie in dem Papier skizziert ist, bringt das für die Beschäftigten zusätzliche Belastungen mit sich. Durch gestiegene berufsbezogene Erreichbarkeiten und erweitertes mobiles Arbeiten reicht die Arbeit für immer mehr Beschäftigte bis in die Abendstunden und in die Wochenenden hinein (Entgrenzung). Verbindliche Feierabendregelungen, regelmäßige Pausen und nötige Ruhezeiten werden häufig nicht eingehalten. Je mehr Arbeitsangelegenheiten ins Privatleben Einzug halten, desto mehr leidet dieses und desto größer sind arbeitsbedingte Beeinträchtigungen wie Stress und Burnout. Die für die Gesundheit dringend notwendige Erholung wird erschwert – schon jetzt hat rund die Hälfte der Erwerbstätigen Schwierigkeiten, von der Arbeit abzuschalten. Das ergibt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. (1)

Besonders betroffen sind Beschäftigte, deren Arbeit „flexibel“ über Projekte oder Deadlines organisiert wird, oder in Betrieben mit dünner Personaldecke, das macht die aktuelle Böckler-Befragung vom Juli 2021 unter rund 4500 Erwerbstätigen deutlich. Ein wahres Gift für die Erholung ist Personalmangel, den die Beschäftigten zwangsläufig durch Überstunden ausgleichen. Bei ausreichend Personal leisten Vollzeitbeschäftigte danach im Durchschnitt zwei Überstunden pro Woche. Bei Personalengpässen sind es durchschnittlich 3,5 Überstunden. Beschäftigte, deren Arbeit über zeitlich enge Deadlines gesteuert wird, arbeiten wöchentlich im Durchschnitt 3,5 Stunden mehr, Beschäftigte ohne Deadlines machen drei Überstunden. Ohne Team-Projektarbeit leisten Vollzeitbeschäftigte im Durchschnitt 2,5 Überstunden pro Woche. Arbeiten sie in Projekten oder Teams, sind es durchschnittlich 3,5 Überstunden.

Dass solche modernen und zunehmend verbreiteten Arbeitsformen oft mit deutlich längeren Arbeitszeiten verbunden sind, habe nur vordergründig mit freiwilligem Engagement zu tun, betonen die Wissenschaftler*innen. Oft seien vom Arbeitgeber zu hoch angesetzte Ziele die wahren Gründe. „In solchen Fällen entscheiden sich Beschäftigte zwar dafür, Überstunden am Abend und am Wochenende zu leisten, aber nicht etwa aus Begeisterung für ihre Arbeit, sondern um ihr Arbeitspensum zu schaffen“ – und weil sie sich für den Erfolg von Projekten und die Einhaltung von Fristen verantwortlich fühlen.

„Interessierte Selbstgefährdung“

In der Wissenschaft ist in diesem Zusammenhang auch von „interessierter Selbstgefährdung“ die Rede. Insbesondere für Mütter stellen Überstunden und unplanbare Arbeitszeiten eine große Belastung dar, da sie häufig zusätzlich einen Großteil der Kinderbetreuung übernehmen. Eine unzureichende Erholung kann nach dem Stand der arbeitsmedizinischen Forschung mittel- und langfristig zu sozialen und gesundheitlichen Nachteilen und Risiken führen wie psychische Beschwerden und Burnouts.  Daher muss die tägliche Dauer der Arbeitszeit begrenzt sein. Erholzeiten innerhalb (Pausen) und außerhalb der Arbeitszeit (Ruhezeiten) sind Voraussetzung für die Kompensation von Beanspruchungsfolgen.

Eine vereinbarkeits- und gesundheitsförderliche Flexibilisierung der Arbeitszeit hängt sowohl von einem starken Arbeitszeitgesetz und Arbeitsschutzgesetz als auch von einer transparenten und im Betrieb verbindlich geregelten Arbeitszeiterfassung ab“, stellen die WSI-Forscherinnen Dr. Yvonne Lott und Dr. Elke Ahlers fest. Ob zeit- und ortsflexibles Arbeiten den Beschäftigten nützt oder schadet, hänge wesentlich von den Arbeitsbedingungen im Betrieb und der Unternehmenskultur ab, aber auch von den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Geschützt werden können Beschäftigte durch die Erfassung der Arbeitszeit. Das gilt auch und gerade für diejenigen, die mobil arbeiten.

Besser erholt sind Beschäftigte, so die Studie, wenn die Arbeitszeit allgemeingültig und für alle im Betrieb dokumentiert wird. Allerdings kommen solche Regelungen bisher nur einer Minderheit zugute – am häufigsten noch in mitbestimmten und tarifgebundenen Betrieben: In Betrieben mit Betriebsrat geben 32 Prozent an, dass ihre Arbeitszeit im Homeoffice betrieblich erfasst wird, in Betrieben ohne Arbeitnehmervertretung sind es nur 19 Prozent. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen Beschäftigten mit und ohne Tarifvertrag.

Statt Abweichungen von den täglichen Erholungszeiten zu begünstigen, wäre es wichtig, die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) schon vor gut zwei Jahren eingeforderte betriebliche Arbeitszeiterfassung gesetzlich umzusetzen, um mehr Beschäftigte, vor allem jene in nicht mitbestimmten Betrieben, zu schützen. Gleichzeitig müsse die Begrenzung der täglichen Höchstarbeitszeit und die Einhaltung von Ruhezeiten gewährleistet bleiben, betonen die WSI-Forscherinnen. Dazu heißt es im Koalitionsvertrag allerdings nur sehr vage: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen.“

(1) Yvonne Lott, Elke Ahlers: Flexibilisierung der Arbeitszeit: Warum das bestehende Arbeitszeitgesetz und eine gesetzliche Arbeitszeiterfassung wichtig sind, WSI Report Nr. 68, Oktober 2021

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