Mafiöse Strukturen
Anfang März hatte die Deutsche Post gute Nachrichten zu verkünden: Der Konzernumsatz war im Geschäftsjahr 2018 auf 61,6 Milliarden Euro angewachsen und das operative Ergebnis auf 3,2 Milliarden Euro gestiegen. Die vorgelegte Bilanz zeigte auf, dass man mit der Tochter DHL Geld verdienen kann. Keine überraschende Entwicklung, denn durch den Online-Handel hat die Zahl der versandten Pakete rasant zugenommen. Ein riesiger Markt hat sich aufgetan, den sich der Branchenführer DHL, der einen Anteil von knapp über 45% am deutschen Paketmarkt hat, mit vier weiteren Zustelldiensten – UPS, GLS, DPD, Hermes – teilt. 3,5 Milliarden Pakete brachten die Zusteller 2018 in die Haushalte. Der Bundesverband Internationaler Express- und Kurierdienst (BIEK) rechnet damit, dass bis zum Jahr 2022 noch einmal eine Milliarde Sendungen hinzukommen.
Entsprechend groß ist die Nachfrage nach Paketzusteller*innen. Mehr als 490.000 Menschen arbeiten laut Bundesagentur für Arbeit (BA) in der Paketbranche. Nur 30% haben eine Ausbildung beispielsweise zur Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienste abgeschlossen. 70% sind Hilfskräfte und arbeiten zum Großteil in Teilzeit oder als Minijobber. Die Branche ist geprägt durch Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbständigkeit und ein schwer zu durchschauendes Geflecht von Sub- und Sub-Subunternehmen.
Das Umsatzplus und der erwirtschaftete Profit kommen bei den Beschäftigen nicht an. Im Gegenteil: Im letzten Jahrzehnt ist deren Bruttomonatsentgelt um 13% gesunken. Die Folge: Die Zahl derjenigen, die von ihrem Gehalt nicht leben können und am Ende des Monats mithilfe der Arbeitsagentur »aufstocken« müssen, ist größer geworden. Zugleich hat der Leistungsdruck zugenommen, was bedeutet, dass Paketzusteller unter massivem Zeitdruck die Sendungen zum Kunden bringen.
Eine Ursache dafür ist, dass auf dem Rücken der Paketzusteller ein gnadenloser Konkurrenz- und Preiskampf ausgefochten wird, vor allem, weil Online-Plattformen wie Amazon und Zalando mit Gratis-Versand und kostenlosem Umtausch ihre Kunden umwerben. Da der Prozess des Auslieferns der Pakete bei allen Unternehmen weitgehend gleich ist, versuchen die Paketdienstleister auf dem hart umkämpften Markt ihre Konkurrenten durch Lohndrückerei Marktanteile wegzuschnappen. Massiver Arbeitsdruck, unbezahlte Überstunden und niedrige Löhne sind das Ergebnis.
»In der Paketzustellbranche haben sich zum Teil mafiöse Strukturen etabliert«, prangerte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske die kriminellen Machenschaften beim Paketversand an: »Unternehmen wie Hermes engagieren Firmen, die wiederum andere Firmen beauftragen, die dann Menschen aus der Ukraine, aus Moldawien oder aus Weißrussland in die Lieferfahrzeuge setzen«. Über solche Ketten werden die Preise und damit die Löhne gedrückt. Werden die Beschäftigten von DHL und UPS noch bzw. wieder nach Tarif bezahlt, der deutlich über dem Mindestlohn liegt, ist die Bezahlung bei den anderen Zustelldiensten hundsmiserabel. Laut ver.di werden in der Branche real Stundenlöhne von 6 oder gar nur 4,50 Euro gezahlt, da die Arbeitszeiten oft bei 12 oder sogar 16 Stunden täglich betragen, statt der festgeschriebenen acht Stunden. Der Mindestlohn beträgt in Deutschland seit diesem Jahr 9,19 Euro pro Stunde.
Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der LINKEN mitteilte, ist das mittlere Bruttomonatsentgelt in der Branche von 2007 bis 2017 von 2859 auf 2478 Euro gefallen. Das ist eine Abnahme um 13%. Zugleich stiegen die Vergleichsentgelte in der Gesamtwirtschaft um 23,7% (Rheinische Post, 08.04.2019). Vollzeitaushilfen verdienen im Mittel 2044 Euro brutto im Monat. Der Anteil an Niedriglöhnern liegt in der Paketbranche mit 50% mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtwirtschaft. Dabei erfasst die Statistik die vielen (schein-)selbständigen Fahrer und die wachsende Zahl von ausländischen Subunternehmern bei den Paketdienstleistern mit noch schlechterem Gehalt noch nicht einmal.
Die Paketdienstleister umgehen vor allem über Subunternehmer die geltenden Arbeitszeit- und Mindestlohnregelungen. Bei einer bundesweiten Razzia von 3.000 Zollbeamten der »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« Anfang Februar bei Subunternehmen von Paketdiensten sind erneut verheerende Zustände ans Licht gekommen: nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge, illegale Beschäftigung, Verstöße gegen den Mindestlohn. Das Hauptzollamt Duisburg meldete als Zwischenergebnis, dass »im Durchschnitt jeder dritte Arbeitgeber im Bereich Paketzusteller und Kurierdienste« zu wenig Lohn zahle.
Durch eine exzessive Inanspruchnahme von Subunternehmern hat sich in der Branche eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entwickelt. DHL Delivery und UPS arbeiten überwiegend mit eigenen, fest angestellten Zustellern, die nach Tarif (1) zu halbwegs akzeptablen Konditionen bezahlt werden. 98% der Pakete, so DHL, würden durch die eigenen Zusteller ausgeliefert, bei den anderen zwei Prozent müssten sich die beauftragten Firmen »bezüglich Arbeitsbedingungen und Löhnen an die gesetzlichen Bestimmungen halten« und vertraglich verpflichten, das Mindestlohngesetz einzuhalten.
Hermes, DPD und GLS dagegen arbeiten fast ausschließlich mit Subunternehmern mit weit überwiegend prekären Arbeitsbedingungen. Aber auch Unternehmen wie Amazon und Zalando lassen verstärkt durch Subunternehmen ausliefern, die ihre Waren bis an die Haustür der Kunden bringen, ohne dass einer der großen Paketdienste zwischengeschaltet ist. Die Subunternehmer sind das zentrale Scharnier für die Profite oben und den massiven Lohndruck unten. Am Ende der Kette stehen die Zusteller, die als Selbständige arbeiten und mit ihren Privatwagen die Pakete ausfahren.
Die Auftraggeber profitieren von diesem Subunternehmerunwesen. Ausgehend von dem eigentlichen Normalmodell einer festen Beschäftigung der Fahrer bei den großen Paketzustellern werden bei der Auslagerung an Subunternehmen zum einen Sozialversicherungsbeiträge gespart und zum anderen alle arbeitsrechtlichen Verpflichtungen vermieden, die bei einer eigenen Beschäftigung der Paketzusteller anfallen würden.
So können die auftraggebenden Paketdienste immer darauf hinweisen, dass die von ihnen existenziell abhängig kleinen Subunternehmen, die sich im Status einer Scheinselbständigkeit befinden, eigenverantwortlich agierende Unternehmen seien, die gehalten sind, die Vorschriften einzuhalten. Mit dem Hinweis, man verpflichte nur Auftragnehmer, die bestehende Gesetze einhalten, versuchen die Auftraggeber ihre »weiße Weste« zu wahren. Bei Bekanntwerden von Rechtsverstößen durch die »Finanzkontrolle Schwarzarbeit« ziehen sie sich durch Kündigung der Verträge mit dem Subunternehmen aus der Verantwortung.
Ver.di hat deshalb Bundesregierung und Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert. »Die Politik muss auch in der Paketbranche die sogenannte Nachunternehmerhaftung einführen«, lautet die Ansage von Frank Bsirske. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nahm die Steilvorlage der Gewerkschaft auf und legte zum Ärger seines Kollegen Peter Altmeier (CDU) den Gesetzentwurf »zur Erstreckung der Nachunternehmerhaftung für Sozialabgaben auf die Kurier-, Express- und Paketbranche« vor. Das bedeutet, dass der eigentliche Auftraggeber für die korrekten Arbeitsbedingungen bei allen Subunternehmern verantwortlich ist. Die großen Zustelldienste müssten also bei Verstößen ihrer Subunternehmer gegen die Sozialversicherungspflicht selbst einstehen und die Beiträge zahlen.
Während der Arbeitsminister damit »die Solidargemeinschaft der Beitragszahler*innen« schützen und »die Schwarzarbeit sowie illegale Beschäftigung eindämmen will«, ist Wirtschaftsminister Altmaier besorgt um die Unternehmen, die er vor dem »Aufbau einer neuen Bürokratie« bewahren möchte, denn jetzt sei »nicht die Zeit für neue Belastungen der Wirtschaft.« Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hatte umgehend verlautbaren lassen, der Staat dürfe nicht seine eigene Aufgabe – nämlich die Durchsetzung des Mindestlohns – auf Unternehmen abwälzen. Diese hätten kaum Möglichkeiten, Rechtsverstöße bei einem Vertragspartner auszuschließen. Das Haftungsrisiko für Unternehmen sei deswegen unverhältnismäßig hoch.
Nach wochenlangen Diskussionen hat sich die Bundesregierung Mitte Mai auf ein Gesetzespaket verständigt, mit dem sowohl »bessere Arbeitsbedingungen in der Paketbranche« durchgesetzt als auch die »Bürokratiebelastung für kleine und mittel-ständische Firmen« abgebaut werden sollen. Nach dem Prinzip der Nachunternehmerhaftung sollen die Versandunternehmen verpflichtet werden, Sozialbeiträge für säumige Subunternehmer nachzuzahlen. Mit dem geplanten Gesetz sorge die Koalition »für Beitragsehrlichkeit, die soziale Absicherung aller Paketzusteller und zugleich für einen fairen Wettbewerb«, heißt es in dem Ergebnispapier der Koalitionsrunde. Der DGB sieht in der Einigung einen wichtigen Durchbruch.
Eine gesetzliche Vorschrift führt bekanntlich nicht automatisch dazu, dass sie auch eingehalten wird. Die Nachunternehmerhaftung wird nur dann Wirkung entfalten können, wenn die Einhaltung der Bestimmungen erstens umfassend kontrolliert und zweitens bei Verstößen eine empfindlich treffende Sanktionierung gegen die Unternehmen – sowohl die Auftraggeber wie die Subunternehmen – wirksam wird. Um durch Kontrollen den Missbrauch schneller feststellen zu können, ist eine bessere personelle Ausstattung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit notwendig.
Aber auch die Forderungen aus der Union werden in dem Kompromiss berücksichtigt. So soll mit einem dritten »Bürokratie-Entlastungsgesetz« (BEG III) dafür gesorgt werden, dass spürbare Entlastungen für die Wirtschaft, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen, von mindestens einer Milliarde Euro umgesetzt werden. Details nannten die Koalitionäre zunächst nicht. Dieser Teil der Einigung sollte aufhorchen lassen, denn immer dann, wenn im Zusammenhang mit der Arbeitswelt von Bürokratieabbau die Rede ist, haben neoliberale Koalitionäre und Vertreter der Wirtschaftsverbände Arbeitnehmerrechte im Visier. Es würde nicht überraschen, wenn sie sich das Arbeitszeitgesetz vorknöpfen würden.
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkung
(1) Die Deutsche Post hatte als Reaktion auf den sich verschärfenden Wettbewerb im Paketmarkt 2015 diverse regionale Tochtergesellschaften gegründet. Für die rund 13.000 Beschäftigten, die in die DHL Delivery GmbH übergeleitet wurden, galt fortan nicht die Haustarifverträge der Post, sondern regionale Tarifverträge des Speditions- und Logistikgewerbes mit längeren Arbeitszeiten und oftmals niedrigeren Gehältern als die der Zusteller, die noch direkt bei der Post arbeiten. Damit ist nun wieder Schluss: Post und ver.di haben sich darauf geeinigt, dass von Juli 2019 an auch für die Paketboten von DHL Delivery der Haustarifvertrag des Konzerns Geltung hat. So werden die meisten Delivery-Paketfahrer in diesem Sommer mehr Geld verdienen, ver.di spricht von 47 bis 316 Euro mehr pro Monat. Zudem erhalten die Zusteller künftig ein Weihnachtsgeld, eine betriebliche Altersversorgung und Kündigungsschutz. »Künftig gilt wieder: ein Betrieb, ein Tarifvertrag«, so die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis (Süddeutsche Zeitung, 27.03.2019).
Foto: Symbolbild Paketzusteller – dpa