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Mehr Demokratie wagen!

„Schockstarre in Berlin“, lauteten die Schlagzeilen in den Medien, als die „One-Man-Show“Christian Lindner, das Scheitern der Sondierungsgespräche für eine „Jamaika“-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und der FDP mit dem Satz begründete: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Richtig, eine Jamaika-Koalition, wäre sie zustande gekommen, hätte „Falsch regiert“ und hätte sie gegen die Interessen der ArbeitnehmerInnen regiert. Die Ideensammlung des Vorsitzenden der Klientelpartei „FDP – Für Die Privilegierten“ – man nennt es auch Programm – für Golfklub-Wutbürger und Smartphone-Abhängige zielte auf eine Umverteilung von unten nach oben ab, sprich auf das Schröpfen der arbeitenden Menschen ab.

Befristete Arbeitsverträge mit und ohne Sachgrund sollen erhalten bleiben, die private Altersvorsorge soll verbessert und das Renteneintrittsalter flexibilisiert, also nach oben hinausgeschoben werden. Strenge Arbeitsschutzregelungen sollen liberalisiert werden: Dem Arbeitszeitgesetz müsse ein Update verpasst werden– verklausuliert die FDP ihre Attacke auf die Rechte der arbeitenden Menschen verklausuliert. Man müsse den BürgerInnen beibringen, dass – wie es der Vorsitzende des Sachverständigenrates schon gesagt hat – nach acht Stunden Arbeit nicht einfach Schluss ist, sondern der moderne Unternehmer von seinen Beschäftigten erwarten kann, dass sie jederzeit abrufbereit sind.

Es verwundert deshalb nicht, dass konservative Wirtschaftsjournalisten und Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände das Scheitern bejammern und eine Krise der Demokratie beschwören. Schließlich ist die FDP doch nach wie vor ihre Partei – die Partei der „organisierten Reichtumspflege“: Statt die Überschüsse in Bildung, Verkehr, Wohnungsbau, Breitbandnetze, Pflege und Armutsbekämpfung zu investieren, will die FDP alles für die Abschaffung des Soli verwenden, wovon hauptsächlich die Spitzenverdiener profitieren. Auf fünf Milliarden Euro mehr in den Taschen dürfte sich das reichste Hundertstel der Haushalte freuen, knapp 80 Prozent der Entlastung flössen an das oberste Fünftel der Einkommen. Als ob die Reichen in diesem Land nicht schon genug hätten.

Gleichzeitig diente sich die FDP jenen Teilen der bürgerlichen Mitte an, die mit AfD-Positionen liebäugeln – denen die Rechtsextremen dann aber doch zu abstoßend sind. Ausprobiert hat es Lindner mit Flüchtlingshatz und europafeindlichen Tönen schon im Wahlkampf und in den Sondierungsgesprächen zeigten sich die „Liberalen“ beim Thema Migration hartleibiger und inhumaner als selbst die nach rechts gerückte bayrische CSU.

Nach dem nicht Zustandekommen dieser gegen die ArbeitnehmerInnen gerichteten Koalition, was zu begrüßen ist, kreist nun die politische Debatte um drei Szenarien – große Koalition, Minderheitsregierung und Neuwahlen. Im politischen Raum, den Medien und vor allem in den Sozialen Netzwerken überschlagen sich die Kommentare, die SPD müsse Verantwortung übernehmen. Es sind teilweise dieselben Kommentatoren, die vor der Bundestagswahl vehement vor einer Neuauflage der Großen Koalition gewarnt und die Sozialdemokraten nach der Bundestagswahl zu ihrem richtigen Schritt in die Opposition beglückwünscht haben.

Jetzt wollen sie die SPD wieder an die „Front der Verantwortung“ schicken und nehmen so beiläufig womöglich ihren Tod billigend in Kauf. So heißt es beispielsweise auf dem Debattenforum „Gegenblende“ des DGB: „Viele Sozialdemokraten haben die Niederlage mittlerweile verkraftet (?) und erkennen zu Recht, dass sie mit der Union immer noch genug Stimmen für eine Koalition haben Und dass sie nun nicht nur Verantwortung übernehmen müssten, sondern zudem zahlreiche politische Forderungen durchsetzen könnten“.

Getrieben von solchen Kommentaren und der Angst mancher Bundestagsabgeordneten, dass bei Neuwahlen ihr eben erst erkämpfter Parlamentssitz wackeln könnte, macht die Partei des Sozialisten August Bebel nun auf Hamlet. „Regieren oder Nichtregieren, das ist hier die Frage“. Doch tragische Helden gehören auf die Bühne und nicht in die Politik. Da hilft auch nicht das Zitat von Willy Brandt: „Erst das Land, dann die Partei.“ Und es ist grundfalsch, wenn sich die sozialdemokratische Partei wieder einmal der staatspolitischen Räson opfert. Es gibt keine Pflicht zur Selbstzerstörung.

Es spricht nichts dagegen, wenn die SPD der Union die Tolerierung einer Minderheitsregierung anbieten würde. Damit könnte sie den Ball dorthin spielen, wo er hingehört – ins Feld der kommissarischen Kanzlerin Angela Merkel. Das würde Martin Schulz und den Mitgliedern Zeit verschaffen wieder darüber nachzudenken, wo her die SPD kommt, warum ihre WählerInnen abgewandert sind.

Ideen zu entwickeln, wie der gefährliche Trend gestoppt werden kann, dass z.B. über Erbschaften das Reichtumsgefälle brutal zuzunehmen droht. Was gegen drohende Klimakatastrophen getan werden muss oder dagegen, dass ganze Regionen sozial ins Abseits gestellt werden, weil Konzerne wie Siemens trotz Milliardengewinne einen personellen Kahlschlag betreiben. Es ist an der Zeit, sich an das Zitat von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 zu erinnern: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“

Die „Jamaika“-Luftballons sind geplatzt Foto: dpa

 

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