
Für einen kämpferischen Auftakt im Tarifjahr 2019 sorgten die 23.000 Luftsicherheitskräfte an deutschen Flughäfen. Die Warnstreiks in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt a.M. und München haben sich für das Sicherheitspersonal im wörtlichen Sinne gelohnt: Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di konnte in zähen Verhandlungen mit dem Bundesverband der Luftsicherheitsunternehmen (BDLS) erstmals einen bundesweiten Entgelttarifvertrag in der Luftsicherheit mit einem Stundenlohn von 19,01 Euro durchsetzen. Die Löhne für die Kontrolleure an den Sicherheits-schleusen werden in den kommenden drei Jahren um bis zu 26,7% erhöht. (1) Zugleich führt der erzielte Abschluss dazu, dass bis zum Jahr 2021 der unhaltbare Zustand exorbitanter Gehaltsunterschiede zwischen West und Ost beendet wird.
In diesem Jahr verhandeln die DGB-Gewerkschaften für rund 7,3 Mio. (im Vorjahr 11 Mio.) abhängig Beschäftigte neue Entgelttarifverträge. 2019 fehlen die industriellen Schwergewichte wie die Metall- und Elektroindustrie, das Bauhauptgewerbe sowie die im öffentlichen Dienst Beschäftigten beim Bund und in den Kommunen, da in diesen Tarifbereichen mehrstufige Tarifverträge mit einer durchschnittlichen Laufzeit von 26,5 Monate bis 2020 vereinbart worden sind. Die anstehenden Tarifbewegungen sind stark dienstleistungsgeprägt, mit Ausnahmen der Tarifverhandlungen in der Eisen- und Stahlindustrie und der Textil- und Bekleidungsindustrie (2) zu Beginn dieses Jahres sowie in der chemischen Industrie im 4. Quartal 2019. Zum Jahresabschluss verhandelt die Tarifgemeinschaft der DGB-Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden BAP und iGZ die Entgelte für eine Million Leiharbeiter*innen.
Die Lohnforderungen liegen in diesem Jahr in der Stahlindustrie und für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst der Länder bei 6%. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert 6,5%. Außerdem stehen auf den tariflichen Agenden die Wünsche der abhängig Beschäftigten nach mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeitgestaltung in Form der Wahloption »Zeit statt Entgelt« und Regelungen zum Übergang bzw. Fortsetzung der Altersteilzeit.
So fordert die IG Metall für die 93 000 Stahlarbeiter*innen nicht nur 6% mehr Geld, sondern auch eine zusätzliche jährliche tarifliche und tarifdynamische Urlaubsvergütung in Höhe von 1.800 Euro. Sie soll von den Beschäftigten wahlweise in freie Tage umgewandelt werden können. Darüber hinaus sollen die Tarifverträge zur Altersteilzeit, über den Einsatz von Werkverträgen und zur Beschäftigungssicherung verlängert werden. Damit setzen die Stahlkocher den Weg fort, den ihre Gewerkschaft im Frühjahr 2018 mit dem Metall-Tarifabschluss begonnen hat. Inzwischen haben 260.000 Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie ihren tarifvertraglichen Anspruch auf zusätzliche acht freie Zeit statt tarifliches Zusatzentgelt (T-Zug) angemeldet.
Ver.di verhandelt in diesem Jahr für die Arbeitnehmer*innen im Öffentlichen Dienst (ÖD) der Länder sowie im Einzelhandel und im Groß- und Außenhandel. Von der Tarifrunde für den ÖD der Länder, außer Hessen, sind rund 1,1 Millionen Tarifbeschäftigte betroffen. Hessen besitzt einen eigenen Tarifvertrag. Die zuständigen Gewerkschaften fordern wie immer die wertgleiche Übernahme des Tarifabschlusses für die Beamt*innen im Landesdienst. Damit sind es insgesamt 2,3 Millionen Beschäftigte, die von Verbesserungen profitieren würden.
Ver.di, der Deutsche Beamtenbund (dbb), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fordern für die Beschäftigten in ihrem Zuständigkeitsbereich sechs Prozent mehr Geld, mindestens aber ein Plus von 200 Euro monatlich. Die Auszubildenden und Praktikant*innen sollen 100 Euro mehr im Monat bekommen und 30 Tage statt 29 Tage Urlaub im Jahr. Neben der Entgeltsteigerung soll die Pflegetabelle um 300 Euro erhöht werden, was zusätzliche Verbesserungen für Kranken- und Altenpfleger*innen bedeuten würde. Die Forderung ist identisch mit unserer Forderung für die Beschäftigten in Bund und Kommunen Anfang 2018.
Ende Januar bzw. Februar sind im Bankgewerbe (ohne Genossenschaftsbanken), in dem 217.900 Beschäftigte arbeiten, die Tarifverträge ausgelaufen. In den Geldinstituten fordert ver.di 6% mehr Gehalt sowie die Option, statt Entgelterhöhung die Arbeitszeit zu reduzieren. Ende März bzw. April laufen die Tarifverträge im Einzelhandel sowie im Groß- und Außenhandel aus. Die Tarifrunden im Handel betreffen rund 2,5 Millionen Beschäftigte.
Im Jahr 2019 wollen die DGB-Gewerkschaften an die Lohnzuwächse im vergangenen Jahr anknüpfen. Laut dem Jahresbericht 2018 des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) sind die Tarifvergütungen im Jahr 2018 nominal im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt um 3,0% gestiegen. (4) Gegenüber Steigerungsraten von jeweils 2,4% in den beiden Vorjahren hat die Lohnentwicklung damit deutlich an Dynamik gewonnen. Nach Abzug des Verbraucherpreisanstiegs von 1,9% ergibt sich für 2018 ein realer Zuwachs der Entgelte um 1,1%.
Darüber hinaus wurden in Branchen, wie beispielsweise der Metall- und Elektroindustrie, der Deutschen Post AG oder der Deutschen Bahn, die Wahloption »Zeit statt Geld« geschaffen. Damit ist den Gewerkschaften ein wichtiger Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung der Beschäftigten bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten gelungen«, sagt der WSI-Tarifexperte Thorsten Schulten.
In der Tarifbilanz für 2018 zeigen sich zwischen den verschiedenen Branchen und Wirtschaftsbereichen erneut deutliche Unterschiede. Dies ist u.a. eine Folge sinkender Tarifbindung. Gründe dafür sind unter anderem der Mitgliederrückgang bei den Gewerkschaften sowie eine zunehmende Dynamik der Umstrukturierung von Wertschöpfungsketten, neue Geschäftsmodelle und das Outsourcing von Tätigkeiten. Je geringer die Tarifbindung in der Fläche ist, desto niedriger ist das gesamte Einkommensniveau und desto stärker ist die Spreizung der Entgelte in den Unternehmen. Laut dem Betriebspanel 2017 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) arbeiten nur noch 49% der West-Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben – im Osten 34%. Hinzu kommen 8% der westdeutschen und 10% der ostdeutschen Beschäftigten, die unter dem Schutz von Firmen- oder Haustarifverträgen arbeiten. Bei rund der Hälfte der übrigen Beschäftigten orientieren sich die Unternehmen an den existierenden Tarifverträgen.
Das Kerngeschäft von Gewerkschaften besteht in Tarifverhandlungen – die sie entweder für ganze Branchen, oder auch für einzelne Firmen führen. Und natürlich kommt es darauf an, wie viele Mitglieder sie jeweils hinter sich vereint wissen. Fest steht: Je mehr es jeweils sind, umso durchsetzungsfähiger sind sie. Wo eine Gewerkschaft kaum Mitglieder hat, sind auch ihre Chancen gering. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske verdeutlichte das am Beispiel der beiden Organisationsbereiche Altenpfleger*innen, die einen »unterirdischen Organisationsgrad« haben, und dem Sicherheitspersonal an den Flughäfen, dessen Erfolg einem »Organisationsgrad bis zu 80 Prozent « zu verdanken ist (Süddeutsche Zeitung, 26.01.2019).
Am Jahresbeginn haben die acht Gewerkschaften des DGB bekannt gegeben, wie sich die Zahl ihrer Mitglieder entwickelt hat. Insgesamt gehören den Einzelgewerkschaften knapp sechs Millionen Arbeitnehmer*innen an. Die IG Bau hat wiederum am meisten verloren, die Gewerkschaft der Polizei (GdP) am meisten gewonnen. Ver.di gelingt es zwar von Jahr zu Jahr etwas besser, Mitglieder zu gewinnen, dennoch reicht die Akquise immer noch nicht, um Austritte und Sterbefälle zu kompensieren. Mit knapp zwei Millionen Mitgliedern ist sie nach der IG Metall die zweitgrößte Gewerkschaft. Die IG Metall sieht sich weiterhin auf der Erfolgsspur. 2018 sind bundesweit 133.165 Frauen und Männer neu eingetreten – knapp 25% mehr als im Vorjahr. Zum Jahresende gehörten ihr damit 2,27 Millionen Menschen an.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Mitgliederentwicklung laufen in den Gewerkschaften verstärkt Debatten darüber, wie die Tarifbindung der Betriebe wieder erhöht bzw. Anreize geschaffen werden können, um Arbeitnehmer*innen als Mitglied für die Gewerkschaft gewinnen. Der DGB sowie die dienstleistungsorientierten Gewerkschaften fordern zum einen von der Politik den Abschluss von »Tariftreueregeln«, d.h. öffentliche Aufträge sollen nur an Firmen vergeben werden, die ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen, und zum anderen sollen mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden.
Gibt es in einem Wirtschaftszweig wenigstens einen Tarifvertrag mit einer gewissen Strahlkraft, kann das Bundesarbeitsministerium dessen Geltungsbereich auf alle Betriebe ausdehnen – wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zustimmen wurden. Allerdings verhindern die Arbeitgeber mit ihrem Vetorecht eine Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Um deren Blockadehaltung zu durchbrechen ist eine Reform des »Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie« notwendig, sodass künftig der mit Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und des Arbeitsministeriums besetzte Tarifausschuss per Mehrheitsbeschluss über AVE-Anträge entscheiden kann. Beide Maßnahmen könnten zu höherer Tarifbindung führen.
Da jedoch von einem Tarifvertrag in der Regel alle Beschäftigten eines tarifgebundenen Arbeitgebers profitieren – auch diejenigen, die nicht Mitglied in einer Gewerkschaft sind, fällt der Tarifvertrag »als Anreizinstrument für den Beitritt von Arbeitnehmern in eine Gewerkschaft aus«, konstatiert Martin Franzen von der Universität München in einem Gutachten für das Hugo-Sinsheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der Arbeitsrechtler schlägt vor, das Steuerrecht zu nutzen, um die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft attraktiver zu machen. Im Kern geht es bei seinem Vorschlag darum, einen Teil des tarifgebundenen Lohns bei Gewerkschaftsmitgliedern steuerfrei zu stellen. Der Freibetrag solle sich an dem Drei- bis Vierfachen des üblichen Gewerkschaftsbeitrags bei durchschnittlichen Einkommen orientieren – und damit etwa 1300 bis 1700 Euro pro Jahr betragen. Gewerkschaftsmitglieder, die bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigt sind, würden damit »von nicht unerheblichen Steuervorteilen profitieren«. Auch die tarifgebundenen Arbeitgeber hätten etwas davon: Sie könnten damit werben, dass die bei ihnen beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder über ein höheres Nettoeinkommen verfügen als bei anderen Unternehmen.
All diese Vorschläge stoßen auf Ablehnung bei den Arbeitgebern. Tarifautonomie bedeute, so ihre Argumentation, dass es nicht nur jedem erlaubt sei, einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband beizutreten, sondern auch, sich davon fernzuhalten. Der Staat dürfe keine Seite fördern. Stattdessen plädieren sie für »mehr Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen«, um Tarifflucht zu vermeiden bzw. Tarifbindung wiederherzustellen. »Wenn wir Tarifverträge flexibilisieren und Module zur Verfügung stellen, bin ich zuversichtlich, dass die Tarifautonomie wieder an Akzeptanz gewinnt«, so BDA-Präsident Ingo Kramer. Es müsse künftig möglich sein, einzelne Bestandteile, etwa Regelungen zur Arbeitszeit, auf betrieblicher Ebene anders zu regeln und z.B. nur einzelne Module eines Tarifvertrags zu übernehmen.
Um die Organisations-, Widerstands- und Durchsetzungskraft zu stärken sowie den Sumpf der »tarifvertragsfreien Zonen« trocken zu legen, setzt die IG Metall dagegen weiterhin vorrangig auf Organizing-Projekte wie die »Gewerkschaftlichen Erschließungprojekte« in Schwerpunktbetrieben. Mit der neuen Kampagne »Tarif jetzt!« will die IG Metall im Baden-Württemberg den tariflosen Zustand beenden. Bis 2025 will die Gewerkschaft weitere 100.000 Beschäftigte in Tarifbindung bringen, derzeit arbeiten in all ihren Branchen etwa 600.000 Arbeitnehmer*innen in Betrieben ohne Tarifvertrag. Schon in der Metalltarifrunde 2016 war der Kampf um die Tarifbindung in den Fokus gerückt – seither arbeiten zum Beispiel in Baden-Württemberg mehr als 33.300 Beschäftigte aus 106 Betrieben erstmals oder wieder unter dem Dach des Flächentarifvertrages.
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1) Die Gehaltssteigerungen fallen je nach Bundesland unterschiedlich aus. Insgesamt liegen die Erhöhungen jährlich zwischen 3,5 und 9,77 Prozent. Nach drei Jahren je nach Region und Tätigkeit zwischen 10,5 und 26,7 Prozent.
(2) Mitte Februar wurde in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie ein Tarifabschluss erzielt. Die Tarifentgelte erhöhen sich in zwei Stufen: Ab August 2019 gibt es 2,6 Prozent mehr und ab September 2020 eine weitere Erhöhung von 2,3 Prozent. Das Urlaubsgeld erhöht sich um 2,6 Prozent und 2,3 Prozent. Für die Monate Februar bis Juli 2019 gibt es eine Einmalzahlung von 340 Euro. Die Vergütungen für Auszubildende erhöhen sich in jedem Ausbildungsjahr ab August um 30 Euro und um weitere 30 Euro ab September 2020. Von Februar bis Juli erhalten die Azubis eine Einmalzahlung von 170 Euro. Die Aufzahlung der Arbeitgeber bei der Altersteilzeit erhöht sich ab September 2019 auf 570 Euro und ab September 2020 auf 600 Euro. Die Höhe der Aufzahlung richtet sich nach dem Eintritt in die Altersteilzeit.
(3) Das WSI-Tarifarchiv berücksichtigte bei der Berechnung der kalenderjährlichen Tariferhöhungen für das Jahr 2018 sowohl die Neuabschlüsse aus dem laufenden Jahr als auch Abschlüsse aus Vorjahren, die eine Laufzeit bis mindestens Ende 2018 haben. Die Laufzeit der 2018 neu abgeschlossenen Verträge beträgt durchschnittlich 26,5 Monate. Damit setzt sich der seit Jahren anhaltende Trend zu immer längeren Laufzeiten fort (WSI-Pressedienst v. 05.02.2019).
Foto: Metall-Tarifrunde 2018: Demonstration in Gevelsberg – Thomas Range