Offensive für mehr Mitbestimmung

Vorschläge des DGB für ein Betriebsverfassungsgesetz des 21. Jahrhundert
Bis Ende Mai finden in rund 28.000 Betrieben in Deutschland Betriebsratswahlen statt. 180.000 Betriebsratsmitglieder werden gewählt. Die Grundlage dafür bildet das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) in seiner reformierten Fassung von 1972. Das sieben Jahrzehnte alte Betriebsverfassungsgesetz wird den Anforderungen, die heute an die Akteure der betrieblichen Mitbestimmung gestellt werden, nicht mehr gerecht.
Aus diesem Grund haben die DGB-Gewerkschaften eine Offensive für mehr Mitbestimmung gestartet. Die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitswelt, der Einsatz künstlicher Intelligenz in allen Bereichen der Wertschöpfung, der Ausbau der Plattformökonomie und die Transformation weiter Bereiche der Wirtschaft, gerade auch vor dem Hintergrund der Erhaltung der Umwelt und der Verbesserung der Ressourceneffizienz, stellen massive Herausforderungen für die Betriebe und damit die Interessenvertreter*innen der abhängig Beschäftigten dar. Beschäftigung und Qualifizierung, Arbeitszeit und Arbeitsweise, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datenschutz und Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten sowie Gleichstellungsfragen stellen sich heute neu bzw. in veränderter Form. Bei vielen der aktuellen Herausforderungen in den Betrieben haben Betriebsräte nur Informations- und Beratungsrechte.
Die geschichtlichen Kämpfe um die Mitbestimmung der Lohnabhängigen machen deutlich: Es ging immer um Machtfragen und um tiefgreifende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen zur Durchsetzung demokratischer Rechte. Nach der Revolution im November 1918 wurde die Mitbestimmung der arbeitenden Menschen 1919 zuerst im sogenannten »Räte-Artikel 165« verankert und schließlich 1920 in der Weimarer Republik im Betriebsrätegesetz rechtlich umgesetzt. Die Betriebsräte wurden als gesetzlich reguliertes Gegenmodell zur gewerkschaftlichen Vertretung aller Beschäftigten über Betriebsgrenzen hinweg geschaffen. Die Belegschaftsvertretungen wurden zur Loyalität gegenüber dem Betrieb verpflichtet, was bis in die heutigen Tage gilt, zur »vertrauensvollen Zusammenarbeit« mit dem Management. Auf die Spitze getrieben wurde dies in der Verordnung einer »Betriebsgemeinschaft, die die Nationalsozialisten mit der Beseitigung das Betriebsrätegesetz 1933 und dem ein Jahr später erlassenen »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« (AOG) vollendeten. In der »völkischen Arbeitsgemeinschaft« wurde der Unternehmer zum Führer des Betriebes, die Belegschaft zur Gefolgschaft.
In der Stunde nach dem Sieg über den Faschismus knüpften die gewerkschaftlichen Interessenvertreter an das Betriebsrätegesetz von 1920 an. Sie forderten u.a. Informationsrechte, Mitbestimmung bei Einstellungen und Entlassungen und in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Eine demokratisierte Wirtschaftsordnung sollte die Basis für eine demokratische Gesellschaftsordnung bilden. Dazu bedurfte es einer Betriebsverfassung, die den Betriebsräten weitgehende Mitbestimmungsrechte in personellen und wirtschaftlichen Fragen einräumte.
Als jedoch der damalige Bundespräsident Theodor Heuss am 11. Oktober 1952 das Betriebsverfassungsgesetz verkündete, waren die Forderungen nach einer grundlegenden Neuordnung der Wirtschaft und Gesellschaft längst gescheitert. »Die dem Gesetz innewohnende Ideologie entspricht einer Zeit, die wir 1945 für allemal überwunden glaubten«, kritisierte der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner den restaurativen Charakter des Gesetzes.
Das Gesetz verweigerte die paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten, schrieb eine Trennung von Gewerkschaften und Betriebsrat vor. Das BetrVG von 1952 untersagte den Betriebsräten jede Tätigkeit, die darauf hinauslaufen könnte, »die Arbeit und den Frieden des Betriebs zu gefährden«. Die Mitbestimmungsrechte beschränkten sich im Wesentlichen auf »soziale Angelegenheiten«.
Die folgenden Novellierungen dieses Gesetzes brachten den Betriebsräten im sozialen Bereich zwar mehr Anhörungs-, Mitsprache- und Durchsetzungsmöglichkeiten, aber keine wirkliche Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Auch die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 2001 brachte nicht die Veränderungen, die die Gewerkschaften erwartet hatten. Sie eröffneten allerdings neue Handlungsmöglichkeiten wie Initiativen zur Sicherung der Beschäftigung (§ 80 Abs.1), das Initiativ- und Beratungsrecht wurde gestärkt (§ 92a), Beschäftigte können als sachkundige Auskunftspersonen bei Gestaltungsprozessen herangezogen werden (§ 80 Abs.2 Satz 3). Bei Betriebsänderungen können in Betrieben mit mehr als 300 Beschäftigten externe, arbeitnehmerorientierte Berater*innen hinzugezogen werden (§ 111 Abs.1).
Wenn es um Investitionen, Standorte und Arbeitsplätze geht, dominiert jedoch eindeutig das Profitprinzip des Kapitals. Ohne Erweiterung der Mitbestimmung, um Einfluss auf die Investitionsentscheidungen nehmen zu können, bleibt es dabei, dass auch die bescheidensten Anforderungen an Demokratie »am Werkstor enden«.
Den Gewerkschaften geht es zum einen um die Neudefinition zentraler Begriffe wie »Betrieb« und »Arbeitnehmer«, die in Zeiten der Plattformökonomie und mobiler Arbeit nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind, und zum anderen um mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte. Eine Gruppe von Expert*innen der DGB-Gewerkschaften sowie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat gemeinsam mit Jurist*innen der Universitäten Göttingen und Bremen einen konkreten Gesetzentwurf (1) erarbeitet, der sieben Handlungsfelder beschreibt:
1. Neuregelungen, die ermöglichen, mit besseren Mitbestimmungsrechten Umweltschutz und Gleichstellung im Betrieb, inklusive Entgeltgerechtigkeit, voranzubringen. Konkret verlangt der DGB, dass Betriebsräten künftig auch über Umwelt- und Klimaschutz in Unternehmen mitentscheiden sollen, etwa bei der Umstellung auf eine umweltfreundlichere Produktion.
2. Reformen, um mit mehr Mitbestimmung u.a. bei Weiterbildung und Personalplanung für sichere Beschäftigung in Zeiten von Digitalisierung, ökologischem Umbau der Wirtschaft und weiterer Globalisierung zu sorgen. Bei Fragen der Weiterbildung, der Beschäftigungssicherung und der Personalplanung soll es für Betriebsräte ein Initiativ- und Mitbestimmungsrecht geben.
3. Mitbestimmung, um Persönlichkeits- und Datenschutz am Arbeitsplatz angesichts völlig neuer digitaler Kontrollpotenziale zu gewährleisten. Die Betriebsräte sollen künftig mitentscheiden über digitale Möglichkeiten zur Kontrolle der Arbeit.
4. Reformen, damit betriebliche Mitbestimmung in zunehmend international und hochkomplex organisierten Unternehmen nicht faktisch ausgehebelt werden kann.
5. Traditionell sind Religionsgemeinschaften weiträumig vom Betriebsverfassungsgesetz ausgenommen. Das betrifft auch Bereiche, in denen sie als »normale« Arbeitgeber wirken, beispielsweise die konfessionellen Wohlfahrtsverbände. Diesen generellen »Tendenzschutz« soll es nach dem Reformvorschlag in der bisherigen Form nicht mehr geben.
6. Um alle schutzbedürftigen Beschäftigtengruppen repräsentieren und Rechte effektiv durchsetzen zu können, wird im Reformvorschlag der betriebsverfassungsrechtliche Arbeitnehmerbegriff dahingehend erweitert, dass arbeitnehmerähnliche Verhältnisse und Leiharbeitende einbezogen werden.
7. Reformen, um Betriebsratswahlen zu erleichtern, Arbeitgeberschikanen gegen Betriebsratsgründungen wirksam einen Riegel vorzuschieben und Betriebsräte zu stärken. Der Reform-Gesetzentwurf macht einen konkreten Vorschlag für eine entsprechend geänderte Regelung (§ 119).
Darüber hinaus macht der Entwurf einen Vorschlag für eine angemessene Vergütung von Betriebsratsmitgliedern, der besser als bisher Qualifikationen und Erfahrungen berücksichtigt, die im Zuge der Amtsausübung erworben werden.
»Damit Beschäftigte beim industriellen Strukturwandel nicht unter die Räder kommen, braucht es ein Mitbestimmungsrecht bei der Beschäftigungssicherung, Personalplanung oder Weiterbildung«, so die Zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Für mehr Beteiligungs- und Kontrollrechte der Betriebsräte beim Einsatz von Datenanalysen sowie Künstlicher Intelligenz plädiert Christoph Meister, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. Handlungsbedarf sieht Meister auch beim mobilen Arbeiten. Verbreitete IT-Anwendungen für das Homeoffice ermöglichten den Arbeitgebern weitgehende Kontrollmöglichkeiten; um die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten zu schützen, müssen die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte dringend erweitert werden.
Eine Maxime bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes muss lauten: Je größer Veränderungen sind, desto wichtiger ist es, dass sie gemeinsam mit den Menschen umgesetzt werden und nicht über ihre Köpfe hinweg. Betriebsräte, die »ihre« Beschäftigten beteiligen und deren Interessen selbstbewusst vertreten, stärken die Demokratie. Um den Beschäftigten Demokratie im Betrieb zu ermöglichen, braucht es mehr Zeit, um Ideen zu den eigenen Arbeitsbedingungen oder auch aktuelle gesellschaftliche Themen miteinander zu erörtern.
Vorgeschlagen wird von der Experten-Gruppe eine sogenannte Demokratiezeit. Eine Stunde pro Woche sollen die Beschäftigten von der Arbeit freigestellt werden, um ihre Beteiligungsrechte wahrnehmen zu können. Zudem wird die Meinungsfreiheit der Beschäftigten gestärkt, indem klargestellt wird, dass sie auch außerhalb des Betriebes zu betrieblichen Fragen Stellung nehmen dürfen.
Die Ampel-Koalitionäre SPD, Grüne und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Mitbestimmung weiterzuentwickeln. So hat sich die Ampel-Koalition dazu verpflichtet, den Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht in die Betriebe zu ermöglichen und die Behinderung von Betriebsratswahlen und -tätigkeit künftig zu einem Offizialdelikt zu machen, doch diese minimalistischen Eingriffe sind mit Blick auf die betriebliche Realität völlig unzureichend.
Widerstand gegen die gewerkschaftlichen Reformbestrebungen ist aus dem Arbeitgeberlager zu erwarten. »Das Betriebsverfassungsgesetz muss entstaubt werden. Das Gesetz atmet in weiten Teilen eine Arbeitskultur einer vergangenen Zeitepoche«, schrieb Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Doch während die Gewerkschaften die Rechte der Betriebsräte stärken wollen, setzt der BDA-Chef auf Deregulierung betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften.
Autoren: Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1)»Betriebliche Mitbestimmung für das 21. Jahrhundert«, Gesetzentwurf für ein modernes Betriebsverfassungsgesetz. April 2022