„Paukenschlag“ des BAG

BAG-Urteil: Arbeitgeber sind verpflichtet Arbeitszeit der Beschäftigten zu erfassen
Deutschland muss europäisches Recht umsetzen. Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sind Arbeitgeber aus Arbeitsschutzgründen dazu verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Den BAG-Beschluss ist ein „Paukenschlag“: Obwohl die Ampel-Koalition noch ein Gesetz zur Arbeitszeiterfassung vorbereitet, gab es in Deutschland bisher keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung.
Diese Pflicht ergibt sich aus dem Arbeitsschutzgesetz in Verbindung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem Jahr 2019. Daraus folgt, dass Arbeitgeber keinen Handlungsspielraum haben bei der Frage der Zeiterfassung, damit besteht auch keine Notwendigkeit für ein Initiativrecht der Betriebsräte zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG – so das BAG in einer Grundsatzentscheidung.
Das Arbeitszeitgesetz sieht bisher es nur in bestimmten Fällen eine Pflicht zur Dokumentation von Arbeitszeiten vor, etwa bei Sonntagsarbeit oder beim Überschreiten der täglichen Höchstarbeitszeit. „Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften begrüßen diese Entscheidung. Diese Feststellung ist lange überfällig: Arbeitszeiterfassung ist kein bürokratischer Selbstzweck, sondern Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten werden – was heutzutage viel zu oft nicht der Fall ist“, kommentierte das geschäftsführende Mitglied im DGB-Bundesvorstand Anja Piel das Urteil. Die IG Metall begrüßt die Entscheidung als Hilfe „im Kampf gegen Millionen unbezahlte Überstunden die Beschäftigte jedes Jahr in Deutschland leisten“.
Worum ging es?
Der antragstellende Betriebsrat und der Arbeitgeber, die eine vollstationäre Wohneinrichtung als gemeinsamen Betrieb unterhalten, schlossen im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zeitgleich verhandelten sie über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung hierüber kam nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberseite deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren ein. Er hat die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht. Das Landesarbeitsgericht (LAG) gab dem Antrag des Betriebsrats statt. Die Arbeitgeber des gemeinsamen Betriebs hatten mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss Erfolg – allerdings zu einem höheren Preis als erwartet: Denn ein Mitbestimmungsrecht bestehe nur deshalb nicht, so das Gericht, weil Arbeitgeber ohnehin gesetzlich zum Erfassen aller Arbeitszeiten verpflichtet sind.
Das Bundesarbeitsgericht urteilt
Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Beschäftigten geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Die Pflicht zum Erfassen aller Arbeitszeiten geht dabei über das in Deutschland geltende Recht hinaus. Das BAG begründet dies mit der unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG – die Vorschrift betrifft die Grundpflicht des Arbeitgebers, für Arbeitsschutzmaßnahmen die Organisation und die nötigen Mittel bereitzustellen.
Nur aufgrund dieser gesetzlichen Pflicht kann der Betriebsrat nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen, dass der Betrieb ein System zur (elektronischen) Arbeitszeiterfassung einführt. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist.
Was hat das EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung damit zu tun?
Das BAG verweist zwar in seiner Pressemitteilung nicht ausdrücklich auf das vor drei Jahren ergangene „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 14.5.2019 – C 55/18), stützt sich aber auf dessen Argumentation: Zeiterfassung ist eine Maßnahme des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und muss folglich die gesamte Tages- und Wochenarbeitszeit der Beschäftigten umfassen.
Der Europäische Gerichtshof stellte 2019 fest:Nach europäischem Recht besteht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Umstritten waren die Auswirkungen auf das nationale Recht. Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt: Arbeitnehmer*innen können sich auf das deutsche Recht zur Durchsetzung ihres Anspruches auf einen effektiven Arbeits- und Gesundheitsschutz auch in Hinblick auf die Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten stützen. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung leitet das BAG aus dem Arbeitsschutzgesetz ab.
Was müssen Arbeitgeber für die Arbeitszeiterfassung tun?
Mit dem BAG-Urteil ist in der Debatte, ob eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht und was Arbeitgeber tun müssen, eine klare Entscheidung gefallen. Arbeitgeber müssen jetzt aktiv werden: Sie müssen ein System einführen, mit dem die von den Beschäftigten geleistete Arbeitszeit verlässlich erfasst werden kann. Wo Betriebsräte existieren, müssen diese ihre Hausaufgaben machen, damit der Arbeitgeber seiner Verpflichtung nachkommt. Betriebsräte können die Initiative ergreifen und ihre Beteiligungsrechte bei der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung einfordern.
Was bedeutet das BAG-Urteil für Betriebsräte?
Ein Mitbestimmungsrecht besteht immer dann, wenn dem Arbeitgeber ein eigener Entscheidungsspielraum zur Verfügung steht. Wenn der Arbeitgeber ohnehin zur Arbeitszeiterfassung nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet ist, dann kann der Betriebsrat nicht mit ihm darüber verhandeln. Anders zu bewerten ist die Frage, wie die Arbeitszeiterfassung konkret ausgestaltet wird – solange es hier keine abschließenden Regelungen gibt, können und müssen Betriebsräte über die Modalitäten der Arbeitszeiterfassung mitbestimmen.
Was ändert sich an der Vertrauensarbeitszeit und im Homeoffice?
Vertrauensarbeitszeiten und Homeoffice sind weiter möglich. Arbeitgeber müssen aber ihrer Verpflichtung zum Arbeitsschutz auch bei diesen Modellen nachkommen. Sie müssen dafür sorgen, dass Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten eingehalten werden – und zwar indem sie ein objektives, verlässliches und zugängliches System einführen, mit dem die Arbeitszeit erfasst wird. Abwegig ist die oft von Arbeitgebern geäußerte Fantasie von der ausnahmslosen Rückkehr der Stechuhr. Wir leben im digitalen 21. Jahrhundert und eine Zeiterfassung ist so einfach wie nie zuvor.
Welche Kriterien muss ein System zur Arbeitszeiterfassung erfüllen?
Zeiterfassung gilt nur als objektiv, wenn ihr nachweislich die tatsächlich erbrachte Arbeit zugrunde liegt. Es ist rechtlich in Ordnung, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit selbst erfassen – Arbeitgeber sind jedoch verpflichtet, die Arbeitszeitdokumentation zu prüfen und sicherzustellen, dass sie eingreifen können, wenn Beschäftigte nach der Überschreitung von Höchstarbeitszeiten weiterarbeiten. Verlässlich ist die Erfassung dann, wenn sie unverzüglich erfolgt und alle geleistete Arbeit umfasst – das bedeutet auch Zeiten von Bereitschaftszeiten und Arbeitsbereitschaft.
Die Zeiterfassung muss zum einen für Beschäftigte und Arbeitgeber zugänglich sein, zum anderen für Betriebsräte und für Aufsichtsbehörden. Zu erfassen ist die Zahl der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden. Damit die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten und Ruhepausen eingehalten werden reicht es aber nicht, bloß die Zahl der geleisteten Stunden zu dokumentieren. Auch Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit müssen festgehalten werden.
(Unter Verwendung eines Testes des Bund-Verlags)