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„Schröpfen“ statt „entlasten“

Energiekrise: Kosten werden auf abhängig Beschäftigte abgewälzt

Während die Menschen in Deutschland derzeit unter der Hitzewelle stöhnen, kündigt sich durch massive Preisanstiege und drohendem Gasmangel ein kalter Winter an. Es ist paradox: Energiekonzerne fahren derzeit Rekordgewinne ein. Abhängig Beschäftigte müssen immer höhere Heizkosten zahlen. Und ein Ende der rapiden Preissteigerungen ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Wenn die Entlastungsmaßnahmen „Tankrabatt“ und „9-Euro-Ticket“ auslaufen und die Gasumlage in Kraft tritt, drückt das die Inflationsrate zusätzlich nach oben.

Unter diesen Bedingungen werden die Auseinandersetzungen darum, wer die Kosten der Energiekrise tragen muss, umso heftiger ausfallen. Schon jetzt attackiert die Kapitalseite die soziale Errungenschaften: Programme von BDA, BDI und Gesamtmetall sehen Rentenkürzungen und eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit vor. Nach dem Motto „schuften von der Schule bis zur Bahre“ fordert der Präsident von Gesamtmetall, Stefan Wolf: Die Beschäftigten sollten künftig erst mit 70 in Rente gehen.

Pikant ist, dass Wolf ausgerechnet vor der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie in die Offensive geht. Die Verhandlungen werden aufgrund der hohen Inflationsrate schon schwierig genug. Die IG Metaller*innen streiten in den anstehenden Tarifrunden mit ihrer Gewerkschaft darum, die Kaufkraft durch akzeptable Tariferhöhungen zu sichern. Für eine Zurückhaltung gibt es keine Argumente. Viele Unternehmen verdienen ausgesprochen gut. Bereits das erste Quartal dieses Jahres schlossen viele Konzerne mit einem fetten Plus ab.

Dies hält den Gesamtmetall-Präsidenten nicht davon ab, die IG Metall angesichts der wirtschaftlichen Situation vor der Anwendung von Ganztagsstreiks zu warnen. Sollte es zu einem Lieferstopp von russischem Gas kommen, schließt Wolf nicht aus, dass das Streikrecht über die Ausrufung eines „nationalen Notstands“ gebrochen werden könnte. (NTV 1.8.2022)

Auch auf der politischen Bühne in Berlin bestimmen Themen wie Umverteilung und Besteuerung der Profite nicht die Diskussion, sondern Spartipps wie des grünen Wirtschaftsministers Habeck „zum Duschen“ oder Vorschläge der FDP wie ein „Bonus für Hartz-IV-Bezieher*innen“, die sich entscheiden, in ihrer Wohnung zu frieren, damit sie am Ende des Monats Geld für Essen haben. Politiker*innen der Ampelkoalition beschwören ein Gemeinschaftsgefühl, um die Bevölkerung auf härtere Zeiten einzustimmen. In Zeiten sich häufender Bedrohungen wächst unter Politiker*innen anscheinend die Angst vor Unruhe in der Gesellschaft. Das ist wohl der Grund für die zahlreichen Appelle an ein diffuses „Wir“-Gefühl.

Zweifellos lohnt sich für die Energiekonzerne der Krieg in der Ukraine, sie fuhren dank der gestiegenen Preise für Erdöl und -gas saftige Extraprofite ein. Die sechs großen multinationalen Ölgiganten ExxonMobil, Chevron, Shell, BP, Total Energies und Eni meldeten allein für das zweite Quartal 2022 Gewinne von zusammen über 64 Milliarden Dollar. Diese Profite basieren die nicht auf Leistung und Innovation, sondern lediglich auf stark gestiegenen Marktpreisen.

Um diese zusätzlichen Gewinne abzuschöpfen und die Bürger*innen zu entlasten, erheben immer mehr europäische Staaten eine Übergewinnsteuer: Italien, Griechenland, Spanien, Belgien, Ungarn und Großbritannien haben eine solche Abgabe bereits eingeführt oder planen sie. Finanzminister Lindner kann jedoch nirgends Übergewinne sehen. Stattdessen beklagt der „Bodyguard der Superreichen“ in der aktuellen Debatte über die Fortsetzung des „9-Euro-Tickets“ eine „Gratismentalität“. Der FDP-Chef betätigt sich in der Ampel vor allem als Bremser. Die FDP versucht alles zu blockieren, was der wachsenden Gruppe jener Menschen helfen würde, denen die Krise finanziell den Boden unter den Füßen wegzieht. Durch alle politischen Initiativen der Ampel-Koalition zieht sich wie ein roter Faden die Verschonung der Reichen um jeden Preis.

Die SPD will dennoch einen neuen Anlauf nehmen, eine Übergewinnsteuer für Konzerne einzuführen, „die sich an der Krise bereichern“, sagte die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken der Neuen Osnabrücker Zeitung. Es sei nicht hinzunehmen, dass „Energiekonzerne Krisengewinne einfahren in einer Zeit, in der der Staat Gasversorger (wie Uniper) mit einer solidarischen Preisumlage stabilisiert.“ Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang pflichtete ihr ebenso bei wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Doch auch wenn Sozialdemokraten und Grüne einen neuen Anlauf für die Einführung einer Übergewinnsteuer starten, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie damit Erfolg haben werden. Denn nachdem Esken, Mützenich und Lang sich geäußert hatten, bekamen sie vom Bundeskanzler höchst persönlich eine Abfuhr. Olaf Scholz will wohl jeglichen Streit mit der FDP vermeiden.

Mittlerweile hat das Bundeskabinett die „Gasumlage“ beschlossen, die Mitte August in Kraft treten und vom 1. Oktober an greifen soll.  Die Umlage ist zeitlich befristet. Bis Ende September 2024 dürfen Stadtwerke und regionale Energieversorger ihre Mehrbeschaffungskosten an ihre Kunden großteils weiterreichen. Und das, während die Energieriesen Rekorderlöse einstreichen. Beispiel: Der Essener Energiekonzern RWE schraubte für das laufende Jahr seine Gewinnerwartung von 3,6 bis vier Milliarden Euro auf 5,5 Milliarden hoch, so die Ruhrnachrichten. Der Gasversorger Wintershall Dea weist im ersten Halbjahr 2022 einen Gewinn von 1,3 Milliarden Euro aus.

Zweifelsohne sei ein staatlicher Schutzschirm für Stadtwerke, Regionalversorger und Gasimporteure nötig, „um die hiesige Energieversorgung sicherzustellen“ , sagte Gewerkschaftssekretär Dierk Hirschel, Leiter der Wirtschaftsabteilung des ver.di-Bundesvorstandes. Jedoch sei die Gasumlage sozial ungerecht, denn auf die abhängig Beschäftigten werden immense Extrakosten zukommen, die einkommensschwache Haushalte mit mehreren hundert Euro jährlich belaste, obwohl sie die Art ihrer Energieversorgung nicht beeinflussen könnten.

Ab Oktober 2022 sollen die Gaskunden laut der Gas-Netztochter Trading Hub Europe pro Kilowattstunde Gas eine Umlage von 2,419 Cent pro Kilowattstunde zahlen – zusätzlich zu den ohnehin stark angestiegenen Gaspreisen. Für eine vierköpfige Familien in einem Einfamilienhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden bedeutet das Mehrkosten von 484 Euro im Jahr. Bis jetzt ist offen, ob die Umlage zusätzlich besteuert werden muss. Wenn, dann steigt der Betrag auf 576 Euro pro Jahr. Für einen Zwei-Personen-Haushalt mit einem Gasverbrauch von 12.000 Kilowattstunden pro Jahr würden die Mehrkosten inklusive Mehrwertsteuer rund 345 Euro betragen. Seitens des Finanzministeriums heißt es, dass man die Umlage nicht besteuern wolle, doch die derzeitige Ausgestaltung der Gasumlage durch das Wirtschaftsministerium führe dazu, dass ihre Besteuerung europarechtlich geboten sei. Welch ein Steuerirrsinn!

Die tatsächliche Zusatzbelastung für alle Gasnutzer*innen macht jedoch ein Vielfaches dieser Summe aus.  Denn auch ohne die Umlage kommen die höheren Beschaffungskosten bei den Kunden an. Wer aktuell einen neuen Gasvertrag für seine Heizung abschließt, zahlt mindestens 30 Cent pro Kilowattstunde. Vor einem Jahr lag dieser Preis noch bei 6 Cent. Von diesem gewaltigen Preisanstieg haben viele aber noch nichts mitbekommen – weil sie als Mieter*in den drastischen Preisanstieg erst mit deutlicher Verzögerung in ihrer/seiner Nebenkostenabrechnung wiederfinden oder ihre Verträge eine Preisgarantie beinhalten. Doch diese laufen bei Gasverträgen meist nur ein Jahr; sofern noch nicht geschehen, wird die marktgetriebene Preissteigerung, die ein Vielfaches der jetzt beschlossenen Umlage beträgt, darum spätestens in den nächsten Monaten bei allen Gaskunden ankommen.

„Mehrkosten in Höhe von mehreren hundert Euro für Gas stürzen ärmere Privathaushalte in den Ruin“, warnt Verena Bentele, Chefin des Sozial­verbands VdK. Der Deutsche Mieterbund befürchtet, dass mindestens das untere Einkommensdrittel der deutschen Bevölkerung die steigenden Kosten für Energie nicht zahlen kann. Betroffen seien vor allem Menschen, die knapp oberhalb jeder staatlichen Transferleistung liegen. „Wir sprechen hier über Millionen“, warnte der Vorsitzender des Mieterbundes Lukas Siebenkotten.

Unerträglich ist die Gas-Umlage auch deshalb, weil die Ampel-Koalition offensichtliche Alternative ignoriert: den „Gaspreisdeckel“. Das von den Gewerkschaften und der Partei Die Linke favorisierte Konzept sieht vor, einen zum Leben notwendigen Grundbedarf an Energie festzulegen, für den die Preise staatlich garantiert werden. Anders als bei der Gas-Umlage würden ärmere Menschen nicht ab der ersten Kilowattstunde abkassiert. Verteuert würde der über den Grundbedarf hinausgehende Verbrauch – der tendenziell von wohlhabenderen Menschen getätigt wird.

Die Ampelkoalition kündigte vage ein paar Zuschüsse an, bei denen nicht klar ist, ob sie wirklich ausreichen und bei allen ankommen werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat die Hausnummer genannt, mit der Haushalte mit einem Jahreseinkommen bis zu 40.000 Euro entlastet werden sollten: Sie sind längst besonders stark durch die Inflation belastet – und benötigen sicher 100 Euro pro Person und Monat, um einigermaßen über den Herbst und Winter zu kommen.

„Für den Zusammenhalt in unserem Land kommt es jetzt darauf an, zuerst die in den Blick zu nehmen, die auf Solidarität angewiesen sind: Menschen mit geringen bis durchschnittlichen Einkommen, Rentner:innen und Bezieher:innen von Transferleistungen“, heißt es in einem Aufruf von Gewerkschaften, Sozialverbänden und der evangelischen Kirche vom 1. August. Sie müssten ganz besonders von den hohen Preisen für Energie und Lebensmittel entlastet werden. Dabei sind besonders diejenigen in Mitverantwortung zu nehmen, die über große Einkommen und Vermögen verfügen.

Richtig ist: Gewerkschaften und die politische Linke dürfen den sozialen Protest gegen die Gasumlage, Einführung einer Übergewinnsteuer, Grundkontingente für den existenziellen Energiebedarf und Erhöhung von Hartz IV nicht der politischen Rechten überlassen.  Wenn „ein sozialer Problemdruck durch Gewerkschaften nicht angemessen repräsentiert und ausgefochten“ werde, suche er sich ein anderes Ventil, so der Jenaer Soziologe Klaus Dörre. „Das ist eine Gefahr für die Demokratie.“

Kommentar von Otto König

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