Schutz vor Lohndumping?
Auf dem Sondergipfel Mitte November 2017 im schwedischen Göteborg verkündeten die EU-Staats- und Regierungschefs feierlich eine »Säule sozialer Rechte«. Dabei blieben Zweifel, ob es sich um sehr viel mehr als ein Placebo im Kontext einer weiterhin marktliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik handelt. Schließlich richtete die EU-Kommission ihre bisherige Arbeit vorrangig am Binnenmarkt- und Wettbewerbsrecht aus – nicht an sozialen Zielen.
Im Zuge der Osterweiterung 2004 galten hohe Arbeitskosten und Sozialleistungen als Standortnachteil, Outsourcing und Verlagerung in »Billiglohnländer« als Erfolg versprechende Wettbewerbsstrategie. Und im Schatten der Finanz-, Wirtschafts- und Verschuldungskrise 2008 schufen die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds 2008 ein Austeritätsregime, das direkte Eingriffe in die Haushalts- und Sozialpolitik der südeuropäischen »Programmländer« ermöglichte. Übrigens auch Eingriffe in die Tarifsysteme, um durch deren Dezentralisierung den Einfluss der Gewerkschaften zu schwächen und den Druck auf die Löhne zu verstärken. Das »Europäische Sozialmodell« wurde abgewickelt.
War der Göteborger »Sozialgipfel« also nur ein Manöver, um Kritikern der EU-»Deregulierungsgemeinschaft«, darunter auch Rechtspopulisten, etwas Wind aus den Segeln zu nehmen? Oder gibt es Aussicht auf reale Verbesserungen – wie bescheiden auch immer? Der aufgestellte Pfeiler sozialer Rechte ist »nur dann sinnvoll, wenn er der Startschuss für konkrete Verbesserungen ist«, so EGB-Generalsekretär Luca Visentini.
Wie Verbesserungen aussehen könnten, zeigt u.a. der Streit um die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern. Als die Entsenderichtlinie vor 22 Jahren beschlossen wurde, ging es darum, den Binnenmarkt für Waren auf Dienstleistungen auszuweiten. Seither darf jedes Unternehmen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union Aufträge in allen EU-Staaten annehmen und mit eigenen Arbeitskräften ausführen.
Da sich die Osterweiterung der EU bereits abzeichnete, legten die westeuropäischen Regierungen fest, dass die Unternehmen ihre Arbeitnehmer*innen, die in einem anderen Mitgliedsland eingesetzt werden, nach den dortigen Vorschriften bzw. Tarifverträgen bezahlen und die Arbeitszeitvorschriften einhalten müssen. Allerdings gelten für entsandte Arbeitnehmer während der ersten 24 Monate einer Entsendung die Bestimmungen des Herkunftslandes. Zugleich verschließt die Richtlinie den Zugang zu dem Sozialversicherungssystem des Ziellandes.
Doch mit der EU-Erweiterung entwickelte sich das Regelwerk, das Millionen entsandter Arbeitnehmer*innen in Europa vor Sozial- und Lohndumping schützen sollte, zu einem Einfallstor für »Billigkonkurrenz«. Als EU-Mitglieder pochen die baltischen Republiken Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und seit 2007 auch Bulgarien und Rumänien auf den Wettbewerbsvorteil niedriger Lohnkosten, verbunden mit der Warnung an die westlichen Partner, ihre Arbeitsmärkte nicht abzuschotten.
Rund zwei Millionen EU-Bürger arbeiten derzeit nach Angaben der EU-Kommission unter der Entsenderichtlinie in einem anderen EU-Land, das sind 0,7% aller Beschäftigten. Etwa 400.000 dieser entsandten Arbeiter kommen aus Polen. An zweiter Stelle folgen 240.000 deutsche Arbeitnehmer mit zeitlich befristeten Arbeitsaufenthalten im EU-Ausland. Danach kommen französische Firmen, die gut 130.000 Arbeiter auf Zeit in andere EU-Länder schicken.
Allein in Deutschland waren 2016 nach Gewerkschaftsinformationen etwa 561.000 Beschäftigte vor allem aus den östlichen EU-Ländern tätig: Auf Baustellen, in Reinigungsfirmen, in der Fleischwirtschaft sowie in der Gastronomie und im Pflegebereich. Die Entsandten sind in ihrem Heimatland angestellt und dort auch sozialversichert; in Deutschland wird ihnen nicht einmal der Mindestlohn gezahlt und die Arbeitszeiten liegen fast immer weit über dem, was die Entsenderichtlinie erlaubt.
Besonders schlimme Auswüchse wurden in deutschen Schlachthöfen festgestellt. Das Zerteilen und Zerlegen der geschlachteten Tiere wird fast nur von rumänischen und bulgarischen Metzgern erledigt. Sie bekamen jahrelang weniger als vier Euro/Stunde, müssen in erbärmlichen Sammelunterkünften wohnen und bis zu 14 Stunden am Tag an tief gekühlten Arbeitsplätzen arbeiten.
Bei diesem »Geschäftsmodell Ausbeutung« diktieren osteuropäische Arbeitgeber/Verleiher Hand in Hand mit den Entleihern in Westeuropa willkürlich die Wochenarbeitszeiten, umgehen trickreich Mindestlöhne, verändern abgeschlossene Verträge nach Belieben nachträglich, kürzen systematisch Löhne oder unterschlagen sie, zahlen keine Lohnfortzahlungen bei Krankheit oder Urlaub und gewähren keinen Kündigungsschutz. Die Einkommen entsandter Arbeitnehmer*innen liegen weit unter dem jeweiligen Inlands-Niveau, laut EU-Kommission um bis zu 50%.
In einer Veröffentlichung des DGB (»Gleiche Arbeit, gleicher Ort – gleicher Lohn?«) heißt es: »Entsandte Beschäftigte sind massiv gefährdet durch Lohndumping, Sozialversicherungsbetrug, Kettenentsendungen, Entsendungen über Briefkastenfirmen oder missbräuchliche Praktiken hinsichtlich der Zahlung der ihnen zustehenden Löhne und Gehälter«. (1) Ivan Ivanov vom Frankfurter Informationsbüro des Projekts „Faire Mobilität“ berichtet von so genannten „Scheinentsendungen“ über Briefkastenfirmen in Slowenien zum Beispiel, die besonders billige Arbeiter in Bosnien anheuern, in Slowenien anmelden und dann nach Deutschland schicken. Oder Firmenchefs, die ihre Arbeiter frühzeitig zurückholen, damit sie nicht unter die Sozialversicherungspflicht in Deutschland fallen, um sie dann über eine Zweitfirma wieder losschicken. (DLF, 21.06.2017)
Den Arbeitgebern dient das Gehaltsgefälle zwischen West- und Osteuropa zur Profitmaximierung. So ist zu erklären, warum die deutschen Arbeitgeberverbände sich der Forderung der DGB-Gewerkschaften nach einer »Überarbeitung der EU-Entsenderichtlinie« mit dem Ziel »gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort«[1] entgegenstemmen.
Seit dem Frühjahr 2016 hat der Streit über die Überarbeitung der 1996er-Richtlinie in der EU wieder zu genommen. Insbesondere der französische Staatspräsident Emanuel Macron drängt auf eine Verschärfung der Richtlinie. Etwa rund 120.000 Arbeitnehmer*innen – zumeist aus Polen, Portugal und Spanien – arbeiten als Entsendete (»travailleurs détachés«) in Frankreich. Angesichts seiner von Teilen der Gewerkschaften bekämpften Arbeitsmarktreformen benötigte Macron ein Signal aus Brüssel, dass die Europäische Union den französischen Arbeitsmarkt stärker als bisher vor osteuropäischer Konkurrenz schützt.
Im Oktober 2017 einigten sich die EU-Sozialminister mehrheitlich darauf, die Entsendung zu begrenzen und damit das Dumping einzudämmen: Wer am gleichen Ort arbeitet, solle künftig auch gleichen Lohn bekommen. Entsandte Arbeitnehmer*innen könnten demnach nicht mehr fundamental schlechter bezahlt werden als die Kolleg*innen im Gastland.
Während große Teile der westeuropäischen Länder argumentierten, nur so könne Lohndumping vermieden werden, wehrten sich die Osteuropäer gegen die Kommissionsvorschläge. Aus ihrer Sicht geht es bei der Verschärfung der Entsenderichtlinie nicht um den besseren Schutz polnischer oder rumänischer Arbeitskräfte, sondern »die preiswerteren Arbeiter aus dem Osten sollen vom westlichen Arbeitsmarkt ferngehalten werden«, kritisierte die polnische Unterhändlerin Martyna Bildziukiewicz. Polen, Ungarn, Lettland und Litauen stimmten gegen die Nachbesserungsvorschläge der EU-Sozialminister.
Auf den Beschlüssen der EU-Sozialminister aufbauend, erzielten nach wochenlangen Verhandlungen Unterhändler des Europäischen Parlaments, der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Kommission Anfang des Jahres eine Grundsatzeinigung zur »Reform der Entsenderichtlinie«. Die für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität zuständige EU-Kommissarin Marianne Thyssen verkündete einen »Durchbruch“. Nach Angaben der Unterhändler wurde vereinbart, dass Entsendungen künftig auf zwölf Monate begrenzt sein sollen – mit der Möglichkeit einer Ausweitung auf 18 Monate.
Die Einigung zwischen den drei EU-Institutionen sieht vor: Entsandte Arbeitnehmer*innen sollen von Anfang an die gleichen Tariflöhne und Zulagen wie ihre einheimischen Kolleg*innen bekommen, dort wo es keine Tarifverträge gibt, soll der gesetzliche Mindestlohn gezahlt werden. Kosten für Unterbringung und Transport dürfen nicht mehr vom Lohn abgezogen werden. (2)
Die neuen Regeln sollen dazu führen, dass Entsandte vom ersten Tag an geschützt sind und die Abwärtsspirale im Wettbewerb um Niedriglöhne und die schlechtesten Arbeitsbedingungen gestoppt werden. Gewerkschafter begrüßen die vorläufige Einigung, die noch im Detail ausgestaltet und von den EU-Ländern sowie vom Europaparlament bestätigt werden muss.
Bei dem erreichten Kompromiss bleibt jedoch das Thema Sozialversicherung ausgeklammert, d.h. die Sozialabgaben werden weiter im Heimatland der entsandten Arbeitnehmer*innen fällig, wo das Niveau – sofern sie überhaupt sozialversichert sind – deutlich niedriger liegt. Entsprechend sind die Lohnkosten unter dem Strich bei entsandten Arbeitnehmer*innen nach wie vor günstiger als bei einheimischen. »Wenn man heute davon ausgeht, dass eine Arbeitsstunde in Deutschland mit 33 Euro, in Bulgarien hingegen mit 4,40 Euro zu Buche schlägt, dann kann man sich ausrechnen, mit was für einem Kostenvorteil ein Entsendeunternehmen aus Bulgarien kalkulieren kann, wenn die Sozialabgaben auf den deutlich niedrigeren Lohn im Herkunftsland der Entsendearbeitnehmer abgeführt werden müssen«, schreibt Stefan Sell auf Sozialpolitik, blogspot (1.3.2018).
Die erzielte »Grundsatzvereinbarung« benötigt noch die Zustimmung des EU-Parlaments sowie der Mitgliedstaaten. Im günstigsten Fall könnte nach der Einigung der EU-Sozialminister das EU-Parlament im April darüber abstimmen, notwendig ist eine qualifizierte Mehrheit, sodass die Reform der Richtlinie bis zur Sommerpause 2018 verabschiedet sein könnte. »Im Normalfall würde es dann zwei Jahre dauern, bis die Mitgliedstaaten die neuen Regeln in nationales Recht übertragen haben«, erklärt die zuständige EU-Parlamentsberichterstatterin Agnes Jongerius. Abhängig von dem weiteren Entscheidungsgang »sprechen (wir) also vom Sommer 2021«. Damit die Proklamation der »sozialen Säule« keine Symbolpolitik bleibt, ist gewerkschaftlicher und politischen Druck und ein langer Atem notwendig.
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1) RICHTLINIE 96/71/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen.
(2) Beschluss des Bundesvorstandes des DGB vom 4.10.2017 zur »Revision der Entsenderichtlinie«.
(3) Beim Speditionsgewerbe sollen neue Regelungen erst zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer Reform der EU-Richtlinie zum Transportsektor verabschiedet werden, daher sollen insbesondere für die osteuropäischen LKW-Fahrer*innen die Regeln der 1996er EU-Entsenderichtlinie vorerst weiter gelten.
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[1] Beschluss des Bundesvorstandes des DGB vom 4.10.2017 zur »Revision der Entsenderichtlinie«.