„Tarifverhandlungen werden nicht im Kanzleramt geführt.“

„Konzertierte Aktion“ – Eingriff in die Tarifautonomie
Die hohe Inflation – im Juni lag sie bei 7,6 Prozent – beunruhigt die Berliner Ampel-Koalition. Um das Problem in den Griff zu bekommen, will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang Juli „gemeinsam mit den Sozialpartnern diskutieren“, wie mit der aktuellen Preisentwicklung umgegangen werden soll. „Alle müssen etwas dazu beitragen, am Ende der Beratungen sollten konkrete Maßnahmen stehen“, sagte der Kanzler. Scholz knüpft mit seinem Vorschlag an die Idee der „Konzertierten Aktion“ an, die zuletzt 1967 in der Bundesrepublik praktiziert wurde. Es stellt sich die Frage: Was aus dem „Speeddating“ von Regierung, Arbeitgeber:innen, Gewerkschaften, Bundesbank und Sachverständigenrat herauskommen soll?
Im Grundsatz begrüße sie den Vorschlag, „die aktuellen Herausforderungen in einer Konzertierten Aktion von Arbeitgeber:innen, Gewerkschaften und Politik zu besprechen“, so die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi. Klar sei allerdings: „Tarifverhandlungen werden nicht im Kanzleramt geführt.“ Scholz hat jedoch anderes im Sinn. Obwohl er klarstellte, dass sich die Politik selbstverständlich nicht in Lohnverhandlungen einmischen wolle, klingt sein Vorstoß genau danach. Ausdrücklich sprach der Kanzler im Bundestag von den hohen Energiepreisen und der „Lohnpolitik als einen Treiber der Inflation“. Scholz lobte als positives Beispiel die jüngste Einigung in der Chemieindustrie, weil diese vorrangig auf sogenannte Einmalzahlungen anstelle hoher dauerhaft wirkender Lohnerhöhungen setze. „Die gute Idee dahinter ist, den Arbeitnehmer:innen finanziell Luft zu verschaffen, ohne die Arbeitgeber:innen zu überfordern und Inflationsrisiken anzuheizen“, erklärte der Kanzler.
Fakt ist: Der Vorteil von Einmalzahlungen für Arbeitgeber:innen liegt darin, dass sie nicht dauerhaft in die Entgelte eingehen und auch nicht in die Entgelthöhen, die bei den nächsten Tarifverhandlungen als Grundlage für weitere Steigerungen dienen. Einmalzahlungen mögen in der Corona-Pandemie das richtige Mittel gewesen sein. Jetzt gleichen Pauschalbeiträge die dauerhafte Preissteigerung nicht aus. Selbst wenn die Inflation im nächsten Jahr quasi aus technischen Gründen etwas zurückgeht, die herausfordernden Energiepreise gelten weiter, und der erhöhte Inflationssockel wird bleiben. Einmalzahlungen führen unterm Strich für die abhängig Beschäftigten zu Reallohnverlust.
Das Tauschgeschäft das Scholz den Tarifparteien anbieten will: Arbeitgeber:innen leisten eine steuerfreie Einmalzahlung und dafür verzichten die Gewerkschaften auf einen Teil der Lohnsteigerungen, dies ist ein massiver Eingriff in die Tarifautonomie. Die Gewerkschaften sollen also Lohnzurückhaltung üben. Auf nichts anderes läuft dieser Vorschlag von Olaf Scholz hinaus.
Die Einberufung einer „Konzertierten Aktion“ trifft die IG Metall mitten in der Vorbereitung zur großen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie, in der sie auf kräftige tabellenwirksame Entgelterhöhungen setzt. Aufgrund der exorbitanten Inflationsrate gibt es in den Belegschaften eine „enorm hohe Erwartungshaltung“ und eine Ablehnung von Einmalzahlungen. „Die Mitglieder sagen: Ich brauche eine Entlastung von der Inflation, egal wie. Wir brauchen eine kräftige Lohnerhöhung“, so der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann in der Süddeutschen Zeitung. (10.06.2022)
Seit 2018 haben die Metaller:innen keine tabellenwirksame Erhöhung der Monatsentgelte bekommen; es gab coronabedingt nur Sonder- oder Einmalzahlungen. So verwundert es nicht, dass sich rund 85 Prozent der Beteiligten an einer Umfrage der Stuttgarter Bezirksleitung der IG Metall für deutliche Entgelterhöhungen ausgesprochen haben. (Stuttgarter Zeitung, 03.06.2022)
Zu Recht gibt es vor allem auf Gewerkschaftsseite die Befürchtung, dass aus so einer Gesprächsrunde der Politik mit den Sozialpartnern am Ende begrenzende Vorgaben für die Lohnpolitik entstehen könnten. So warnte die Verkehrsgewerkschaft vor einem Eingriff in die Tarifautonomie. „Schon die Einladung macht deutlich, dass am Ende Zurückhaltung bei den Lohnforderungen erwartet, wird“, schreibt EVG-Tarifvorstand Kristian Lorch auf der Webseite der Gewerkschaft. Und ver.di Vorsitzender Frank Werneke stellt fest: Ein Blick in die Geschichte zeige, dass sowohl die „Konzertierte Aktion“ Ende der 1960er Jahre als auch das „Bündnis für Arbeit“ Ende der 1990er Jahre an der staatlichen Intervention in die Tarifpolitik gescheitert sind.
Ein Blick zurück lohnt: Mit dem Begriff „Konzertierte Aktion“ knüpft Bundeskanzler Scholz an ein historisches Format aus dem Jahr 1967 an. Damals hatte die erste Große Koalition aus Union und SPD unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) auf Initiative von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) ein solches Bündnis einberufen, um in einer gesamtwirtschaftlich ähnlich schwierigen Situation wie heute einen Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Gang zu setzen, mit dem Ziel, sich in der Lohnpolitik auf moderate Erhöhungen zu einigen.
Im Gegenzug versprach Schiller „soziale Symmetrie“: Sobald die Konjunktur wieder lief, sollten Löhne und Gewinne im Gleichklang steigen. Das Ziel damals: die Konjunktur ankurbeln. Dazu sollte das 1967 verabschiedete „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ dienen. Es sollte Bund und Länder verpflichten, „bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten“.
Die Gewerkschaften stimmten infolge der Gespräche moderaten Lohnerhöhungen zu und vereinbarten Tarifverträge mit langen Laufzeiten. Die Organisationen der abhängig Beschäftigten mussten jedoch feststellen, dass die soziale Symmetrie ausblieb. Das Wachstum kehrte viel schneller zurück, als es prognostiziert worden war, sodass die Unternehmensgewinne geradezu explodierten. Die Profite der Unternehmer stiegen 1968 um satte 17,5 Prozent, während sich die Beschäftigten mit einem Plus von 6 Prozent bescheiden mussten.
Als am Mittag des 3. September 1969 die Dortmunder Hoesch-Stahlwerker tausendfach das Lied intonieren: „So ein Tag, so wunderschön wie heute……“, ist ein 36-Stunden-Streik im Hoesch-Konzern beendet, aber eine bundesweite Streikwelle eingeleitet. 140.000 Arbeiter:innen und Angestellte in 68 Betrieben in der Bundesrepublik streiken im September 1969. Der aufgestaute Lohnrückstand bereitet den Boden der Unzufriedenheit. Durch die Tarifabkommen der IG Metall vom Februar 1965 bis zum Juni 1968 ergaben sich beispielsweise für die Stahlarbeiter:innen keine Tariflohnerhöhungen mit effektiven Auswirkungen.
Durch überlange Laufzeiten der Tarifverträge hatten sich die Gewerkschaften in der „Konzertierten Aktion“ einbinden lassen. Angesichts unvermindert steigender Preise und der damit verbundenen Lebenshaltungskosten wurde den Stahlwerker:innen die Notwendigkeit eines Nachholbedarfs immer bewusster. Die Beschäftigten griffen zur Selbsthilfe, es kam zu den „September-Streiks“. Die Streiks signalisierten, dass viele Beschäftigte nicht auf die nächste Tarifrunde warten, sondern sofort eine Lohnerhöhung wollten, weil viele Dinge des täglichen Lebens teurer geworden waren.
Die spontanen Streiks waren erfolgreich, denn die betroffenen Betriebe gewährten durchweg ein zweistelliges Lohnplus. Durch das Wachstum herrschte wieder Vollbeschäftigung, und die Firmen waren auf ihre Beschäftigten angewiesen. Um die Streiks einzudämmen, wurde schließlich ein Tarifvertrag abgeschlossen, bei dem die IG Metall eine Gehaltserhöhung von 11 Prozent aushandelte.
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (13.9.1969) sprach der damalige IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner über „Lehren und Konsequenzen aus dieser Entwicklung und stellte fest, „an erster Stelle (möchte) ich sagen, dass wir in ähnlichen Situationen energischer und in aller Öffentlichkeit auf Verhandlungen drängen müssen“. Geringe Tariflohnerhöhungen angesichts hoher Inflationsraten sowie lange Laufzeiten der Tarifverträge lassen Gewerkschaften als inaktiv erscheinen.
Wenn Politiker*innen mit der „Konzertierten Aktion“ auf Instrumente zurückgreifen, die mehr als 50 Jahre alt sind, sollten die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften ebenfalls in diese Vergangenheit zurückschauen, so vermeiden sie, Fehler aus Ende der 1960ern und frühen 1970ern zu wiederholen. Die Tatsache, dass Belegschaften eines damals bedeutenden Industriezweig aus Unzufriedenheit über die tarifpolitische Situation sich veranlasst sahen, ohne ihre Gewerkschaft IG Metall zu streiken, muss auch heute noch eine Warnung sein, sich nicht im Rahmen einer neuen „Konzertierten Aktion“ in staatliche „Lohnleitlinien“ einbinden zulassen.
Stattdessen sollte der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden, den die IG Metall mit ihrer Unterschriften-Kampagne unter dem Motto „Krisengewinne abschöpfen – Kosten deckeln!“ losgetreten hat. „Einige wenige bereichern sich an der Krise, während ein großer Teil der Bevölkerung die Zeche zahlt: Dem gehört ein Ende bereitet“, sagte Jörg Hofmann. Dieses gewaltige Problem brauche eine politische Lösung und einen aktiven Staat. Konkret fordert die IG Metall eine „Übergewinnsteuer“ für marktmächtige Unternehmen, außerdem einen sogenannten Gaspreisdeckel, Strompreissenkungen und mehr Einkommenszuschüsse für Arbeitnehmer- und Rentner:innenhaushalte.