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Theorie – Kompass für die Praxis

50 Jahre IG Metall Bildungszentrum Sprockhövel

„Der bildungspolitische Auftrag, der sich aus der unmittelbaren Interessenlage unserer Mitglieder im Produktionsprozess ergibt, kann und darf nicht zur Anpassung oder zur Vermittlung von Befriedungstechniken aufgefasst werden. Es geht nicht darum, sich immer und stets anzupassen, sondern es geht letztlich um die Aneignung eines größeren Freiheitsspielraumes, um mehr Rechte, um weniger Bevormundung und um mehr Demokratie“.  Bildungsauftrag der Gewerkschaften formulierte der damalige IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner in Anwesenheit des Bundespräsidenten Gustav Heinemann bei der Einweihung des Bildungszentrums Sprockhövel am 3. September 1971.

50 Jahre später – am 3. September 2021 – konnte Schulleiter Richard Rohnert 160 Gäste begrüßen, die zum Festakt anlässlich des 50. Jubiläums des Bildungszentrums angereist waren: die beiden IG Metall-Vorsitzenden, geschäftsführende Vorstandsmitglieder, Bezirksleiter, IG Metall-Bevollmächtige aus NRW, Vertreter*innen aus DGB-Gewerkschaften und der Wissenschaft sowie ehemalige Lehrkräfte der Bildungsstätte. „Investitionen in die Bildungsarbeit sind Investitionen in die Zukunft und die Zukunftsfähigkeit unserer Organisation. (…) Das gilt für die die vier Jahrzehnte des Bildungszentrums Sprockhövel in seiner alten Form und auch und gerade für die Entscheidung nahezu am gleichen Ort ein neues modernes Haus zu bauen, in dem wir uns seit zehn Jahren sehr wohl fühlen und gut arbeiten können“, erklärte Richard Rohnert.

„Politische Kaderschmiede“

Über die Herausforderungen gewerkschaftlicher Bildung in Zeiten von Krise und Umbrüchen sprach das für Bildungsarbeit zuständige geschäftsführende Vorstandsmitglied Irene Schulz. Sie wies auf die lange Tradition der politischen Bildungsarbeit der IG Metall und ihr Gewicht in der Organisation hin, die schon immer auf solidarische Lernprozesse und Handlungsoptionen ausgerichtet gewesen sei. Die große Bedeutung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit für die IG Metall stellte auch der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, in seiner Ansprache heraus. Der Kampf der organisierten Arbeiterbewegung um eine demokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sei auch immer ein Kampf um mehr Bildung gewesen. Es sei unbestritten: „Sprockhövel war und ist emotionaler Bezugspunkt für viele Metallerinnen und Metaller: Sehr viele, die heute in der IG Metall haupt- oder ehrenamtlich aktiv sind, wurden durch Sprockhövel mitgeprägt, haben in diesen Räumen Erfahrungen für ihre gewerkschaftliche und politische Tätigkeit gesammelt.“ Sprockhövel war eine „politische Kaderschmiede“ für ganze Generationen.

In ihrer Festrede sagte Professorin Julika Bürgin, Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt, unter anderem: „Als aus der Zeit gefallen gilt vielen heute die Vorstellung, mit gewerkschaftlicher Bildung die Gesellschaft verändern zu können. Aber um nicht weniger ging es. Den Gewerkschaften wurde zugetraut, einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, die Gesellschaft grundsätzlich zu reformieren oder sogar zu revolutionieren. (…) Vor einem halben Jahrhundert ging es auch um einen originären Bildungsbegriff der Arbeiterbewegung. Die Emanzipation der Klasse sollte schließlich die Klassengesellschaft aufheben.“ Die Kritik der politischen Ökonomie, der Ökonomie der Arbeitskraft, Gesellschaftstheorie und Kulturtheorie sollten Wege eröffnen, die Verhältnisse zu verstehen, um sie zu verändern. Die heutige Lage der Welt zeige, wie relevant die Fragen waren, die vor einem halben Jahrhundert gestellt wurden.

Richard Rohnert, Julika Bürgin, Clarissa Bader, Heribert Karch, Petra Wolfram, Hans-Jürgen Urban und Edith Großpietsch (v.l.n.r.) – Thomas Range

Kampf um die Köpfe

Ein Blick zurück: Die IG Metall hatte im Jahr 1965 auf dem 8. ordentlichen Gewerkschaftstag in Bremen den Bau einer weiteren Bildungsstätte beschlossen. Die bisherigen Kapazitäten an den zentralen Bildungsstätten Lohr am Main, Heidehof/Heidekrug (Dortmund) und der Jugendbildungsstätte Pichelsee (Berlin) reichten nicht mehr aus.  Am 1. August 1968 wurde in Sprockhövel der Grundstein für die neue Bildungsstätte gelegt. Dass hier am Rande des Ruhrgebiets und nicht wie ursprünglich vorgesehen in der „heimlichen Landeshauptstadt“ Dortmund gebaut wurde, war der geschickten Strategie der beiden geschäftsführenden Vorstandsmitglieder Willi Michels und Heinz Dürrbeck zu verdanken. Der Welperaner Michels, zuständig für das Stahlbüro, stellte den Kontakt zur Gemeinde her. „Amtsdirektor und Bürgermeister von Sprockhövel standen zum Empfang bereit und geleiteten die Gewerkschafter zum alten Kauerhof. Das waldreiche, für Bildung und Erholung wie geschaffene Gelände dicht am Rande des Reviers mit 26 Verwaltungsstellen und 750.000 Mitglieder im Umkreis von 50 Kilometern gefiel den Metallern auf Anhieb. Otto Brenner staunte nicht schlecht über die spontane Gastfreundschaft der Sprockhöveler, als ihn der Bürgermeister in ein Lokal geleitete, wo für die Delegation ein stärkendes Mittagessen vorbereitet war.“ (1)

Mit großem Engagement trieb Heinz Dürrbeck, von 1962 bis 1972 für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit zuständig, den Aufbau des Zentrums voran. Für ihn war der Widerspruch zwischen Demokratie im Staat und fehlender Wirtschaftsdemokratie offensichtlich: Menschen in der Arbeitswelt, so Dürrbeck, sollten nicht mehr als „stumme Befehlsempfänger“ behandelt werden, sie sollten „mitdenken und mitbestimmen“. Durch die gewerkschaftliche Bildungsarbeit sollten sie befähigt werden, „sich als aktive, kritische Demokraten mit einer eigenen Meinung und einem eigenen Urteil zu bewähren.“

Mit der Eröffnung des Bildungszentrums mit acht Lehreinheiten, darin integriert zwei Jugendeinheiten, konnte die IG Metall ihr Seminarangebot für Betriebsratsmitglieder, Vertrauensleute und Jugendvertreter*innen deutlich ausweiten. Und dies zum richtigen Zeitpunkt: Denn Ende 1971 wurde das novellierte Betriebsverfassungsgesetz im Bundestag in Bonn verabschiedet. Mit Inkrafttreten des Gesetzes wurde die langjährige gewerkschaftliche Forderung nach bezahltem Bildungsurlaub für Betriebsratsmitglieder und Jugendvertreter*innen realisiert. Hatte sich die Zahl der Teilnehmer*innen an zentralen IG Metall-Seminaren zwischen 1962 und 1972 von etwa 2.700 auf knapp 14.000 verfünffacht, sind es heute pro Jahr rund 40.000 Teilnehmer*innen in allen Bildungszentren, zusammen mit der regionalen Bildungsarbeit ca. 100.000. Damit entwickelte sich die Gewerkschaft zu einem der größten Anbieter politischer Bildung.

„Theorie – ist der Kompass für die Praxis“

In den zurückliegenden fünf Jahrzehnten haben auch tausende ehrenamtliche IG Metaller*innen aus den umliegenden Geschäftsstellen Gevelsberg, Hattingen, Witten und Wuppertal – heute zusammengefasst in der IG Metall Ennepe-Ruhr-Wupper – im alten und neuen Gebäude des Bildungszentrums ihr Wissen für ihre betriebliche Gewerkschaftsarbeit erworben. In zentralen Seminaren, in Wochenendseminaren der Geschäftsstellen bzw. in Klausurtagungen von Betriebsratsgremien erweiterten sie ihre Kenntnisse. Zugleich war und ist das Bildungszentrum für die örtliche IG Metall Ort vieler Veranstaltungen wie Solidaritätskundgebungen bei Arbeitskämpfen, Jubilarfeiern, Delegiertenversammlungen und Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag.

Ehemalige Lehrkräfte wurden Bevollmächtigte wie Franz Bogen in Gevelsberg, Axel Dirx in Wuppertal und Otto König in Hattingen, und setzten die zuvor vermittelnden theoretischen Kenntnisse nun gemeinsam mit Ehrenamtlichen in die betriebliche Praxis um – nach dem Motto: „Theorie – ist der Kompass für die Praxis“. (2) „Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist Zweckbildung für die soziale Auseinandersetzung“, so lautete eine These der in 1972 verabschiedeten „17 Thesen zur Bildungsarbeit“. Dies untermauerte auch die Notwendigkeit von Grundlagenseminaren. Denn diese verbinden die Diskussion über den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit mit der Entwicklung bzw. Aneignung von betrieblichen und gesellschaftlichen Alternativen und fördern gewerkschaftliches Handeln. „Die IG Metall Bildungsarbeit hat immer wieder Anstöße gegeben, „Utopie [zu] denken [um] Realität [zu] verändern“. (…) Nur die Aussicht auf eine andere Praxis und eigene Handlungsfähigkeit motiviert zur Anstrengung, die Welt und sich selbst neu zu betrachten“, sagte Julika Bürgin in Sprockhövel.

Autor: Otto König

Anmerkungen
(1) Frank Bünte: Willi Michels – Ein Leben für den Neuanfang, Dortmund 2008
(2) Otto König „Band der Solidarität“, Widerstand, Alternative Konzepte, Perspektiven, Die IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen 1945-2010, VSA-Verlag Hamburg 2012

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