Top-Entscheidungen für den Betriebsrat

Rechtsprechung 2022: Ein Überblick
Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitszeiterfassung vom 13.9.2022 hat wie ein Paukenschlag gewirkt. Auch sonst gab es wichtige Urteile von Europäischen Gerichtshof (EuGH), Bundesarbeitsgericht (BAG) oder einigen Landesarbeitsgerichten (BAG), die große Auswirkungen auf die Mitbestimmung haben. Hier ein Überblick.
BAG: Arbeitszeiterfassung für alle Beschäftigten
Arbeitgeber müssen ab sofort sämtliche Arbeitszeiten aller Beschäftigten erfassen, egal ob diese mobil oder vor Ort im Betrieb arbeiten. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Arbeitsschutzgesetz im Lichte der EuGH-Rechtsprechung. Der Grundgedanke: Arbeitszeiterfassung dient dem Schutz vor Überlastung durch Überstunden. Unklar bleibt, wie die Stunden zu dokumentieren sind. Ein Initiativrecht der Betriebsräte für eine digitale Arbeitszeiterfassung (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) lehnt das BAG ab.
BAG: keine Anscheinsvollmacht bei Alleingang des Betriebsratsvorsitzenden
Stimmt der Betriebsratsvorsitzende einer Betriebsvereinbarung ohne Beschluss des Betriebsrats zu, kann diese Erklärung dem Betriebsrat nicht zugerechnet werden und ist daher unwirksam. Die sonst im Zivilrecht geltenden Regeln der sogenannten Anscheinsvollmacht bleiben außen vor. Der Arbeitgeber kann sich darauf nicht berufen.
BAG: 30 Prozent Zuschlag für Nachtarbeit
Nachtarbeit ist gesundheitsschädlich und sollte vermieden werden. Wer nachts arbeitet, hat Anspruch auf einen Zuschlag oder Freizeitausgleich. Der Beschäftigte hat also ein Wahlrecht. Zwischen den Optionen (also Zuschlag in Geld oder Freizeit) besteht laut BAG kein Rangverhältnis. Allerdings soll insgesamt dauerhafte Nachtarbeit – so das BAG – vermieden werden. Daher dienen die Ausgleichsregelungen auch dazu, Nachtarbeit einzudämmen. Für Dauernachtarbeit ist ein Zuschlag von 30 Prozent auf das Bruttogehalt angemessen.
BAG: Beim Einführen von MS Office 365 bestimmt der Gesamtbetriebsrat mit
Führt ein Unternehmen die Software Office 365 firmenweit in Form einer sog. 1-Tenant-Lösung – also zentral und einheitlich administrierbar – ein, liegt das Mitbestimmungsrecht nicht beim örtlichen, sondern beim Gesamtbetriebsrat. Grund: Eine derartige Implementierung erfordere »aus zwingenden technischen Gründen eine betriebsübergreifende Regelung«. Die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 fällt daher allein dem Gesamtbetriebsrat zu.
BAG: keine rückwirkende Mitbestimmung bei Betriebsänderungen
Hat der Arbeitgeber in einem zunächst betriebsratslosen Unternehmen mit einer Betriebsänderung bereits begonnen, soll ein kurzfristig gewählter Betriebsrat dabei keine Mitbestimmungsrechte mehr haben. Das Gremium könne keinen Sozialplan rückwirkend erzwingen. Das BAG bestätigt damit eine seit langem etablierte, aber heftig umstrittene Rechtsprechung. Die Kritik stützt sich vor allem darauf, dass betriebsratslose Betriebe vom Gesetzgeber nicht gewollt seien.
LAG: Videoüberwachung und Arbeitszeitkontrolle per Kamera sind tabu
Wer Arbeitszeitbetrug begeht, riskiert eine Kündigung. Videoaufzeichnungen als Beweismittel sind allerdings tabu, sofern die Aufnahmen nicht datenschutzkonform erfolgt sind. Beweise, die per unzulässiger Überwachung erhoben wurden, dürfen nicht im Kündigungsschutzprozess verwendet werden. Es gilt ein Beweisverwertungsverbot. Und das LAG Niedersachsen hat noch einen draufgesattelt: Kameras am Eingang zum Betriebsgelände sind zur Arbeitszeitkontrolle weder geeignet noch erforderlich.
LAG Niedersachsen 7.6.2022 – 8 Sa 1148/20
LAG: Laptop oder Tablet für den Betriebsrat
Die technische Ausstattung des Gremiums ist in den Fokus gerückt, seit viele Sitzungen per Videokonferenz erfolgen. Gleich zwei Urteile beschäftigen sich mit der Frage, ob der Betriebsrat oder sogar das einzelne Mitglied Anspruch auf einen Tablet oder Laptop haben. In beiden Fällen bejahen die Richter den Anspruch, sofern der Betriebsrat in zulässiger Weise einen Teil seiner Sitzungen per Videokonferenz durchführt. Dafür muss eine Geschäftsordnung vorliegen, die den Vorrang der Präsenzsitzung festschreibt. Ist dies der Fall, steht sogar jedem Mitglied ein eigenes Gerät zu.
LAG Hessen 14.3.2022 – 16 TaBV 143/21
LAG Köln 24.6.2022 – 9 TaBV 52/21
LAG München: Betriebsrat darf Auskunft zu Arbeitszeit verlangen
Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber Auskunft über die Arbeitszeiten der Beschäftigten verlangen, einschließlich derjenigen, die auf Vertrauensarbeitszeit arbeiten. Denn für diese gelten die Arbeitszeitgesetze ebenfalls. Vertrauensarbeitszeit und Arbeitszeiterfassung sind kein Widerspruch – so das LAG München.
LAG München 11.7.2022 – 4 TaBV 9/22
EuGH: Urlaub verjährt nicht so leicht
Urlaubsansprüche verjähren nur, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten über seinen Urlaubsanspruch unterrichtet hat und der Beschäftigte in der Lage war, den Urlaub zu nehmen. Das nationale Verjährungsrecht ist in diesem Sinne auszulegen, urteilte der EuGH. Denn ein Arbeitgeber, der seine Hinweispflichten verletzt, dürfe nicht noch mit der Verjährung belohnt werden. Vor einiger Zeit hatte bereits das BAG entschieden, dass Urlaubsansprüche im laufenden Jahr nicht verfallen, wenn der Arbeitgeber nicht auf den Verfall hinweist.
LAG: Betriebsrat muss Datenschutz einhalten
Arbeitgeber können dem Betriebsrat hochsensible Gesundheitsdaten nicht mit Verweis auf den Datenschutz verweigern, wenn das Gremium nachweisen kann, dass es ohne Kenntnis der Daten sein Amt nicht führen kann. Hier ging es um Auskünfte zu schwerbehinderten Menschen. Allerdings muss das Gremium selbst ein Datenschutzkonzept vorlegen und ausreichende Vorkehrungen treffen, um diese sensiblen Daten zu schützen. Eine Kontrolle des Gremiums durch den Datenschutzbeauftragten hält das LAG für zulässig.
LAG Baden-Württemberg 20.5.2022 – 12 TaBV 4/21
Schulungen für Ersatzmitglieder
Auch Ersatzmitglieder des Betriebsrats haben Anspruch auf Grundlagenschulungen, wenn sie öfter oder über einen längeren Zeitraum zum Einsatz kommen. Der Betriebsrat muss dazu eine Prognose erstellen und die Erforderlichkeit begründen. Das Entsenden eines Ersatzmitglieds auf eine Grundlagenschulung ist – anders als bei regulären Betriebsratsmitgliedern – nur ausnahmsweise möglich.
LAG Hessen 17.1.2022 – 16 TaBV 99/21
BAG: Schwerbehindertenvertretung bleibt bei Absinken der Wahlberechtigten im Amt
Sinkt die Zahl schwerbehinderter Beschäftigter in Betrieben unter den in § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX festgelegten Schwellenwert von fünf, führt das nicht dazu, dass das Amt der Schwerbehindertenvertretung vorzeitig endet. Ein vorzeitiges Erlöschen des Amtes ist im Gesetz nicht vorgesehen und auch nicht nach dessen Sinn und Zweck geboten.
EuGH verweist Streit um Nachtzuschläge zurück ans BAG
Nachtzuschläge sind unterschiedlich hoch. Für unregelmäßig geleistete Nachtarbeit wird mehr bezahlt als für regelmäßige. Diese Regelung, die in vielen Tarifverträgen enthalten ist, stößt seit langem auf Kritik. Der EuGH sieht sich allerdings nicht für zuständig. Vergütungsregelungen seien keine Frage der EU-Arbeitszeitrichtlinie. Damit ist der Fall keine Frage des Europäischen Rechts. Das Urteil ist mit Spannung erwartet worden. Der Ball liegt nun wieder beim BAG, das über eine mögliche Ungleichbehandlung entscheiden muss.
EuGH stärkt Mitbestimmung nach Rechtsformwechsel
Die Umwandlung eines Unternehmens in eine Europäische Aktiengesellschaft darf nicht dazu führen, dass die Gewerkschaften weniger an der Zusammensetzung des Aufsichtsrats beteiligt werden. Der EuGH folgt damit der Auffassung des BAG. Sofern das für die umzuwandelnde Gesellschaft geltende nationale Recht einen getrennten Wahlgang für die Wahl der von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter vorsehe, müsse das bisherige Wahlverfahren beibehalten werden