Politik und Gesellschaft

USA: Rassismus und Polizeigewalt „Die Leute haben es satt“

Protests continue following George Floyd s death
Aufmacher-Foto: Wandbild in Minneapolis (USA) zum Gedenken an George Floyd abaca press

Donald Trump versteckt sich in einem unterirdischen Schutzbunker des Weißen Hauses in Washington, redet von »inländischem Terror« und will angesichts der Anti-Rassismus Demonstrationen im ganzen Land die Armee gegen das eigene Volk aufmarschieren lassen. Den Gouverneuren drohte er, wenn sie nicht eine »übermächtige Vollstreckungspräsenz schaffen«, werde er »das US-Militär einsetzen und das Problem schnell für sie lösen«.

Der »Law-and-Order«-Präsident schreckt offenbar nicht davor zurück, das Aufstandsgesetz aus dem Jahr 1807 anzuwenden. Darin ist festgelegt, dass der Präsident im Fall von »Aufstand, rechtswidriger Vereinigung, inländischer Gewalt oder Verschwörung« Soldaten abkommandieren kann. Mittlerweile hat das US-Militär rund 1600 Soldaten auf Militärstützpunkte rund um die Hauptstadt Washington D.C. verlegt.

Trump ignoriert bewusst die friedlichen Proteste der Menschen, die in über 75 Städten auf entsetzt und wütend gegen die Gewalt weißer Polizisten gegen schwarze Bürger*innen protestieren. Am Memorial Day, Amerikas Nationaltrauertag, hatte der weiße Polizist Derek Chauvin (1) in Minneapolis (Minnesota) seinem am Boden liegenden Opfer trotz dessen Flehens »I can’t breathe« (»Ich kann nicht atmen«) fast neun Minuten lang das Knie in den Nacken gepresst und so die Blut- und Sauerstoffzufuhr zu Floyds Gehirn unterbrochen, bis dieser starb. Die Gerichtsmediziner nennen das Asphyxie (2) und Juristen einen Tötungsdelikt. Wir nennen es Mord.

Das Verbrechen an George Floyd hat das Land aufgewühlt. 2013 war die Ermordung von Trayvon Martin in Florida, Michael Brown in Ferguson/Missouri und Eric Garner in New York der Auslöser für die »Black Lives Matter«-Bewegung, die seitdem gegen systematische Gewalt und Diskriminierung von Afroamerikaner*innen protestiert. Jetzt demonstrieren Schwarze und Weiße gemeinsam, friedlich und auch militant, gegen den Alltagsrassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft, deren Institutionen und der politischen Führung. Im Sinne von Martin Luther King: »Ein Aufruhr ist die Sprache der Ungehörten«. Denn wer nicht laut wird, läuft Gefahr, ignoriert zu werden. »Die Leute haben es satt«, Ungerechtigkeit, Brutalität und Vernachlässigung zu erfahren, sagt die demokratische Kongressabgeordnete Ilhan Omar, die seit langem selbst ein Ziel von rassistischen Verbalattacken des Präsidenten ist.

Der Rassismus in den USA ist im System verankert – eine strukturelle Gewalt, um Menschen zu unterdrücken. Für Afroamerikaner umfasste dies die Sklaverei, weißen Terror und Lynchmorde, Benachteiligungen im Wahlsystem, Diskriminierung in der Arbeitswelt durch schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne, »Redlining«, die Vergabe zweitklassiger Hypotheken, Wohnungsnot, Diskriminierung im Bildungssystem usw. Auch die Polizeigewalt ist im System verankert. »Zur DNA der Polizei in den USA gehört es von Anfang an, die Macht der Weißen zu sichern und gleichzeitig die schwarze Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken«, so die US-amerikanische Juristin Derecka Purnell.

Von exzessiver Polizeigewalt in den USA sind Schwarze überproportional betroffen. Das Datenprojekt Mapping Police Violence zählte insgesamt 1.099 Tötungsfälle. Davon waren 24% Schwarze, obwohl sie nur 13% der Bevölkerung ausmachten. Im vergangenen Jahr belegte eine Studie ein deutlich höheres Risiko für junge schwarze Männer, von der Polizei getötet zu werden (Zeit online, 27.05.2020).

In einem offenen Brief hatte der schwarze Intellektuelle Ta-Nehisi Coates 2015 an seinen Sohn geschrieben: »Spätestens jetzt weißt Du, dass die Polizeireviere Deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, Deinen Körper zu zerstören. Und Zerstörung ist auch nur die Steigerung einer Herrschaft, die Filzen, Festnehmen, Schlagen und Demütigen vorsieht. All das ist normal für Schwarze.« In dem Video »10 Regeln, um eine Polizeikontrolle zu überleben« des Fernsehsenders PBS (Public Broadcasting Service) kommen schwarze Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu Wort. Sie geben Hinweise, wie man sicher nach Hause kommt; wie man eine Gefahr überlebt, die nur für den schwarzen Teil der Bevölkerung in den USA als tödliche Bedrohung gilt.

Eine Mischung aus Jura-, Soziologie- und Psychologie-Crashkurs ist der Kern jenes berühmt-berüchtigten Gesprächs, das jede schwarze Familie in den USA mit ihren Kindern führen muss, um die Gefahr durch die Polizei zu erkennen und eine Überlebensstrategie zu entwickeln. Das Aufklärungsgespräch nennt sich schlicht »The Talk«. Auch in Schulklassen mit mehrheitlich schwarzen Schülern wird der »Talk« mittlerweile gelehrt. Kinder malen dort mit Filzstiften »Please don’t shoot!!!« auf ihre Arbeitsblätter und lernen, welche Rechte sie haben und wie sie bei einem Zusammentreffen mit der Polizei lebend davonkommen.

Wenn junge Schwarze schon in dem Wissen aufwachsen, grundsätzlich verdächtig zu sein, bestimmt das auch ihre Einstellungen gegenüber den Vertretern der Staatsgewalt wie der Gesellschaft generell. Die Eskalation beginnt also schon lange bevor eine Waffe gezogen oder jemand zu Boden gedrückt wird. Die Rassenunruhen in Detroit, Los Angeles und Newark in den 1960er Jahren wurden ebenfalls durch das Gefühl der Afroamerikaner ausgelöst, der Staatsgewalt schutzlos ausgeliefert zu sein. Zu Beginn der 1990er Jahre mündete das brutale Niederknüppeln von Rodney King in Los Angeles in einem einwöchigen Aufstand.

Die New York Times prognostiziert den USA »ein Jahr des nationalen Traumas«. Das Land ist gebeutelt von der Corona-Pandemie: 1.827.466 registrierte Infizierte und 106.027 Tote vermeldet die Johns-Hopkins-University in Baltimore (Stand: 03.06.2020). Täglich werden immer noch über 20.000 neue Fälle gezählt. Wirtschaftlich erlebt das Land einen brachialen Absturz. Die brutale Ungleichheit und soziale Spaltung haben unvorstellbare Ausmaße angenommen. Während es den Milliardären und Teilen einer überwiegend weißen oberen Mittelklasse weiter gut geht, werden große Teile der Bevölkerung und ganze Landstriche immer mehr abgehängt.

40 Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos gemeldet. Die Staatshilfen, die sie erhalten, laufen zum Teil bald aus. Millionen von US-Amerikaner*innen konnten sich angesichts hoher Lebenshaltungskosten schon vor der Krise als »Working Poor« nur mit Hilfe von Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Durch Corona sind sie endgültig zur Armut verdammt.

Die Verschränkung von rassistischer Diskriminierung und sozioökonomischer Benachteiligung bekommt die afroamerikanische Bevölkerung mit voller Härte zu spüren – niedrige Einkommen, beengte Wohnquartiere, mangelnder Zugang zu medizinischer Versorgung. Eine Folge ist: Während der Corona-Pandemie sind in den USA bisher deutlich mehr Afroamerikaner als Weiße an dem Virus gestorben – etwa 23% aller Todesopfer sind schwarz.

Und der Präsident? Nachdem er den Bunker im Weißen Haus wieder verlassen hat, erklärte er die Antifa-Bewegung zum terroristischen Hintergrund der Proteste. Der Feind steht links, das so seine Botschaft, mit der er sich erneut als Vertreter der »White Supremacy« zu erkennen gab. Die Gründe für die Proteste, für die über Jahre aufgestaute Wut, interessieren ihn nicht. Er setzt seinen gnadenlosen Kurs der sozialen Spaltung fort, hetzt gegen Schwarze, Latinos, Frauen, Linke – gegen alle, die nicht in sein egomanisches Weltbild passen. Schon zu Beginn der Proteste hatte Trump mit seinem Tweet »When the looting starts, the shooting starts« (»Wenn die Plünderungen losgehen, wird geschossen«) Öl ins Feuer gegossen.

Es ist Wahljahr und der Präsident steht in dieser Krise mit dem Rücken zur Wand. Die Pandemie hat Trumps vermeintliches Gewinnerthema zerstört, die prosperierende Wirtschaft. Die von der Corona-Pandemie ausgelöste Rezession und Massenarbeitslosigkeit haben die Themenpalette verengt. Die Stimmung kippt. In den Meinungsumfragen zu Akzeptanz, Vertrauen und Kompetenz brechen seine Werte ein. Seine Werte zu »Job approval« (Akzeptanz seiner Arbeit) sacken ab.

Nach aktuellen Umfragen sagen 54,1% der US-Amerikaner*innen, der Präsident habe in der Corona-Krise »keinen guten Job« gemacht. Nur 43,7% sehen sein Krisenmanagement positiv. Im Wahlkampfduell liegt sein demokratischer Herausforderer Joe Biden im gemittelten Wert aller Umfragen plötzlich mit einem Abstand von 48,2 zu 42,5% vorne. Umso mehr schürt der Hausherr im Weißen Haus nationalistische Emotionen und nutzt jede Möglichkeit zur Polarisierung, um seine weiße Klientel im November an die Wahlurnen zu treiben.

Es war kein Zufall, dass Trump den zweiten Verfassungszusatz, der den privaten Waffenbesitz garantiert, angesprochen hat. Es war ein Wink an seine Basis, sich zu bewaffnen gegen die »radikalen Linken«. Das beflügelt den Teil seiner Anhänger*innen, die selbst für »Recht und Ordnung« sorgen wollen. Die Repräsentanten der Republikanischen Partei nehmen das in Kauf und garantieren mit ihrer Ignoranz, dass dem Präsidenten keine Grenzen gesetzt werden, weil auch ihnen die Angst vor dem Machtverlust im Nacken sitzt.

Ein Zeichen der Hoffnung ist, dass der Versuch Trumps, die Protestbewegung als »terroristisch« zu brandmarken, nicht zündet. Millionenfach heißt es in den sozialen Netzwerken: »Wir sind Antifa«. In den Städten der USA entwickelt sich aus Ohnmacht Gegenmacht von unten. Zum ersten Mal ist das reelle Gefühl spürbar, als könnte seine Inkompetenz bei der Bewältigung der Corona-Pandemie gepaart mit den Protesten gegen den systemischen Rassismus Trump tatsächlich aus dem Weißen Haus fegen.

Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)

Anmerkungen

(1) Der Polizeibeamte Derek Chauvin blieb tagelang auf freiem Fuß, bevor er verhaftet und des Totschlags und der fahrlässigen Tötung beschuldigt wurde. Floyds Familie und vielen Demonstranten verlangen eine Anklage wegen Mordes. Drei weitere an dem Einsatz beteiligte Beamte wurden mittlerweile auch festgenommen.

(2) Anwälte der Familie von George Floyd legten einen Autopsiebericht vor, in dem unabhängige Gerichtsmediziner zu der Erkenntnis kommen, dass Floyd bei dem brutalen Polizeieinsatz erstickt sei. Der von den Anwälten mit Floyds Autopsie betraute Mediziner Michael Baden sagte: »Die Autopsie hat gezeigt, dass es keine Vorerkrankung gab, die zu seinem Tod geführt oder dazu beigetragen hat.«. Der offizielle Gerichtsmediziner hatte zuvor auf Grundlage vorläufiger Erkenntnisse Vorerkrankungen für Floyds Tod mitverantwortlich gemacht. Er ging davon aus, dass der 46-Jährige nicht erstickte.

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