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Vertuscht, verdrängt, ungeklärt

Vor 10 Jahren – NSU-Mörder „enttarnen“ sich selbst

Anfang November jährte sich zum zehnten Mal die Selbstenttarnung der NSU-Mörderbande. Am 4. November 2011 ging in Eisenach-Stregda ein Wohnmobil in Flammen auf, in dem zwei Leichen gefunden wurden: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, zwei seit Jahren untergetauchte Neonazis. Wenige Zeit später brannte in Zwickau eine Wohnung. Die Mieterin Beate Zschäpe verschwand. In der zerstörten Wohnung stießen die Ermittler auf ein Bekennervideo, in dem ein „Nationalsozialistischer Untergrund“ sich für zehn Morde zwischen 2000 und 2007 verantwortlich erklärte.

Zur Erinnerung: 13 Jahre lang war eine rechtsradikale Terrorbande durch Deutschland gezogen. Die fanatischen Nazis lebten – unterstützt von einem rechten Netzwerk – in der Illegalität. Die Mörder des NSU töteten zynisch und brutal zehn Menschen – neun Männer mit türkischen und griechischen Wurzeln und eine Polizistin aus Thüringen, jeweils an ihrem Arbeitsplatz: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

Mit ihren rassistischen Verbrechen wollte der NSU Einwanderer*innen in Deutschland verängstigen und sie aus dem Land vertreiben. Dies geschah unter Beobachtung und Obhut von V-Leuten, während die Opfer und deren Angehörige von den Sicherheitsbehörden selbst unter Verdacht gestellt wurden.

Die Anwältin Seda Başay-Yildiz, (1) die die Familie des ermordeten Enver Şimşek im NSU-Prozess als Nebenklägerin vertreten hatte, beklagte im Mediendienst Integration, dass Polizei und Staatsanwaltschaftjahrelang mit „rassistischen Denk- und Handlungsstrukturen“ vorgegangen seien. Die staatlichen Ermittler der „Soko Bosporus“ hatten die Mordanschläge auf die Migrant*innen und das Kölner „Nagelbomben“-Attentat mit 22 Verletzten lange Zeit nicht Rechtsterroristen, sondern türkischen Gruppen bzw. der kurdischen Arbeiterpartei PKK zugerechnet. Der institutionelle Rassismus, Borniertheit und Verdrängung ließen die Ermittler in eine Richtung recherchieren, in denen die Opfer selbst oder ihr Umfeld zu Hauptverdächtigen erklärt wurden. (2)

Die Angehörigen wurden mit den ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert, ihre hingerichteten Männer, Söhne und Brüder seien in kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen. Ohne jeden Beleg ging man davon aus, dass die Ermordeten Kontakte zur „türkischen Drogenmafia“ gehabt hätten und aufgrund nicht gezahlter Schutzgelder getötet worden seien. Was die Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx (SPD), dazu veranlasste, bei der Vorstellung des „Abschlussberichts 2014“ vom Verdacht „gezielter Sabotage und bewussten Hintertreibens“ zu sprechen. Dazu gehörte auch, dass nicht nur die Boulevard-Medien, sondern auch die polizeilichen Projektionen über „migrantische Parallelgesellschaften“ oder eine „türkische Mafia“ unkritisch und teils mit wohligem Schauer menschenverachtendsten Ausdrücke wie „Döner-Morde“ verbreiteten.

Die Taten des NSU gehen als die größte rechtsextreme Mordserie in die Geschichte der Bundesrepublik ein und haben einen Mammutprozess sowie mehrere Untersuchungsausschüsse zur Folge. Es wurde offensichtlich, dass die deutschen Sicherheitsbehörden über Jahre hinweg versagt hatten, dass sie nicht willens bzw. unfähig waren, eine rechtsextreme Terrorserie zu stoppen oder auch nur für möglich zu halten. Dieses institutionelle Problem besteht bis heute. „Dass der NSU auf eine Zelle reduziert wird, entspricht dem zentralen Motiv, wie Rechtsterrorismus in Deutschland behandelt wird. Denn wenn man eine Einzeltäterthese wählt, muss man nicht nach Strukturen fragen“, so Martina Renner (Die Linke).

21 Jahre nach dem ersten Mord an Enver Şimşek, zehn Jahre nach dem Auffliegen des NSU und drei Jahre nach dem Prozessende wurde der NSU-Skandal im August dieses Jahres mit dem Beschluss Nr. 157/2021 des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs bürokratisch „zu den Akten gelegt“. Dieser hat „die Revisionen der Angeklagten Beate Zschäpe und zweier Mitangeklagter im Beschlusswege verworfen“ und das Urteil für Zschäpe „zu lebenslanger Haft wegen Mordes“ für rechtskräftig erklärt. Doch bis heute sind entscheidende Fragen ungeklärt.

„Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Das versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel den Angehörigen der Opfer bei einem Trauerakt im Februar 2012. „Es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.“ Fakt ist: Dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Trotz fünfjährigem Strafprozess und über einem Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse muss festgestellt werden, dass der Komplex keineswegs aufgearbeitet wurde. Fragen zu möglichen Mittäter*innen, Unterstützern und Helfershelfern sowie zur Rolle der Verfassungsschutzämter, aber auch Widersprüchen in der offiziellen Darstellung von Tatablauf und Täterkreis sind ungeklärt.

Der Verfassungsschutz selbst hat Aufklärung be- und verhindert. Wohl auch deshalb, um Spuren, die von der rechtsextremen Mörderbande und ihren Helfershelfer*innen zum Bundesamt führen, zu vertuschen. So die mysteriöse Anwesenheit des V-Manns Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in einem Kasseler Internet-Café. Die Temme-Akten sollten nach Auffassung der hessischen Landesregierung 120 Jahre unter Verschluss bleiben, aus einem, wie es heißt, „umfassenden Schutzgedanken, nach dem noch Kinder und Kindeskinder von V-Leuten geschützt werden“. 2019 jedoch wurden alle Verschlusssachen in Hessen auf vorerst 30 Jahre befristet.

In seltener Offenheit erklärte Klaus-Dieter Fritsche (CSU), Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt in den Jahren 2005-2009 vor dem ersten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestags, die konsequente Aufklärung des NSU-Komplexes und die Verstrickungen der Behörden seien nachrangig und sogar kontraproduktiv, wenn dadurch das Staatswohl gefährdet und das Regierungshandeln unterminiert werden könnte. (3) So erklärt sich wohl auch, warum noch im November 2011 ein BfV-Referatsleiter, Tarnname „Lothar Lingen“, Unterlagen über V-Leute in der Thüringer Neonaziszene schreddern ließ.

Der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent wehrt sich vehement gegen das Narrativ, der November 2011 stelle eine Zäsur in der Wahrnehmung rechtsextremistischer Gewalttaten in Deutschland dar. Nach seiner Auffassung gibt es zum einen eine lange Kontinuität dieser Taten und zum anderen eine Tradition der Verharmlosung und Bagatellisierung. Der NSU-Terror offenbarte, wie wenig die politisch Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft die rechtsextreme Gefahr sehen und bekämpfen wollten.

Stattdessen wurde sie durch Wegschauen und Verharmlosen befördert: durch strukturellen Rassismus in den Ermittlungsbehörden, die desinteressiert an rechtsextremen Gewaltexzessen waren und lieber gegen die Opfer ermittelten; durch einen Inlandsgeheimdienst, der in erster Linie den Schutz seiner Quellen im Sinne hatte; durch die politisch Verantwortlichen, die rechten Schlägern das Umfeld bereiteten, indem sie ein vermeintlich zu liberales Asylrecht einschränkten, um Deutschland gegen „Überfremdung“ abzuschotten. Hinzu kamen Blindheit und Desinteresse der sogenannten gesellschaftlichen Mitte.

Der rechte Terror hat nicht aufgehört: Die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke in Kassel sowie die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau mit zwei und neun Toten unterstreichen dies. (4) Wie gefährlich die rechten Strukturen in Deutschland sind, dokumentieren aktuelle Zahlen der Sicherheitsbehörden: Im Jahr 2020 wurden 33.300 Rechtsextremisten erfasst, von denen 13.300 als „gewaltorientiert“ gelten. Die Tendenz dieser Zahlen ist steigend, ebenso wie die der rechtsextremistisch motivierten Straftaten wie Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung und Raub.

Hinzu kommen „braune Hotspots“ in der Bundeswehr und „rechtsextreme Chatgruppen“ in der Polizei. Das sind keine Einzelfälle. Rechtsextremistische Kreise verbreiten sogenannte „Feindeslisten“ – Dokumente, in denen sie Namen und Anschriften von politischen Gegnern aufgelistet haben. Es sind Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Lehrer*innen bzw. einfach Menschen, die sich zivilgesellschaftlich gegen Rechtsradikalismus engagieren und allein aus diesem Grund bedroht und eingeschüchtert werden.

Flankiert wird dies durch unzählige rassistische Übergriffe, eine Mobilmachung durch die rechte Pegida, die Neue Rechte und die völkisch-nationalistische AfD, die im Gewand des Biedermanns mit ihren rassistischen Provokationen als Brandstifter fungiert. Ohne Gegenwehr wächst die Gefahr der Zerstörung der Menschlichkeit und der gesellschaftlichen Solidarität.

Autoren: Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Mitarbeiter der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)

Anmerkungen
(1) Seda Başay-Yıldız erhielt ein mit „NSU 2.0“ unterzeichnetes Fax, mit der Aufforderung, das Land zu verlassen: »Verpiss Dich, du miese Türkensau machst Deutschland nicht kaputt«. Im Schreiben standen der Name ihrer Tochter und ihre Privatadresse – Daten, die nicht im Telefonbuch stehen. Sie kamen aus einem Rechner eines Polizeireviers in Frankfurt a.M. Daraufhin wurde wegen des Verdachts auf einen rechtsradikalen Hintergrund gegen 40 Polizisten Ermittlungen eingeleitet. Schließlich wurden fünf Beamte aus dem Dienst entlassen.
(2) Siehe Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswort. Nazi-Terror – Sicherheitsbehörden – Unterstützernetzwerk, Hamburg 2018.
(3) Siehe auch Andreas Kallert/Vincent Gengnagel: Staatsraison statt Aufklärung, RLS-Analyse Nr. 39.
(4) Siehe auch Otto König/Richard Detje: Lange Blutspur rechtsextremer Morde. Mordhelfer im Lübcke-Prozess bleibt auf freiem Fuß, Sozialismus.de Aktuell 10.02.2021.

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