Völkischer Schulterschluss und Jagdszenen auf Migranten – Auf dem rechten Auge blind
Autor: Otto König und Richard Detje
Am Abend der Bundestagswahl 2017 verkündete Alexander Gauland: »Wir werden sie jagen«. Es meinte damit die Bundeskanzlerin und ihre großkoalitionären Unterstützerkreise. Eine etwas andere Deutung politischer Jagd ereignete sich mit Unterstützung der AfD in Chemnitz: Ein rechtsextremer Mob jagte Menschen angeblich nichtdeutschen Aussehens durch die Straßen der Stadt. Seite an Seite zogen Hooligans mit NPD und »3. Weg«-Anhängern, Aktivisten der Identitären Bewegung, Reichsbürgern, AfD- und Pegida-Anhängern sowie der Pro-Chemnitz-Bewegung. Die Brücken, die zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus geschlagen werden, sind zahlreicher und breiter geworden.
Nach der tödlichen Messerattacke auf den 35-jährigen Daniel H., Deutscher mit kubanischen Wurzeln, inszenierte die rechte Front die Rückeroberung des öffentlichen Raums durch »das Volk«. Für den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer haben sich am 26 und 27. August in der sächsischen Industriestadt wie in einem Brennglas fünf Faktoren gebündelt: Erstens das emotional ausbeutbare Signalereignis des Totschlags oder Mordes, mutmaßlich durch Asylbewerber, zweitens die außerordentliche Gewaltbereitschaft rechtsextremer Netzwerke und die Instrumentalisierungsfähigkeit der AfD und Pegida, drittens die effektive und professionelle Mobilisierungsfähigkeit dieser Netzwerke und viertens die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der sogenannten normalen Bevölkerung. Fünftens schließlich die Unterschätzung der kritischen Masse durch die politische und polizeiliche Führung.
Das bisher nach rechtsextremen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte einsetzende Empörungsritual von Politikern, die den Rassismus schärfstens zurückweisen und die damit verbundene Gewalt verurteilen, wurde nach dem rechten Schulterschluss. (1) in Chemnitz durch ein Ritual der Verharmlosung bei gleichzeitigem Bekunden von Verständnis abgelöst. Nicht nur AfD-Chef Gauland hat es normal empfunden, dass »Menschen ausrasten«, wenn es zu derartigen Taten komme, auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) äußerten Verständnis für die »Wut der Bürger«.
Den Anfang machte Michael Kretschmer (CDU), der in den Modus der Fake News wechselte und im Trump-Stil die Realität leugnete und verdrehte. Während nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel von »Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft« sprach, erklärte der Landeschef in seiner Regierungserklärung im Dresdner Landtag kategorisch: »Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome« – wer aus Wut über das Tötungsdelikt auf die Straße gegangen sei, solle nicht »an den Pranger« gestellt werden. Die Verharmlosung des Rechtsextremismus hat Tradition in der sächsischen Landesregierung. Dadurch wurde der Neuen und Alten Rechten der Raum geöffnet, sich auszubreiten.
Die Opfer der Übergriffe erzählen etwas anderes als Kretschmer. Beispielsweise der Betreiber eines jüdischen Restaurants, das überfallen wurde mit Parolen wie: »Judensau, verschwinde aus Deutschland!« Roland D., der mit einer 35-köpfigen SPD-Gruppe aus Marburg an der Gegendemonstration »Herz statt Hetze« in Chemnitz teilgenommen hatte, schilderte, wie sie auf dem Rückweg zu ihrem Bus von 15 bis 20 Männern mit dem Ruf »Deutschland-Verräter« angegriffen wurden (Frankfurter Rundschau, 07.09.2018). Allein bei der Opferberatung in Chemnitz haben sich bisher acht Geschädigte gemeldet, die auf offener Straße attackiert worden sind. Insgesamt wurden 39 Fälle von Körperverletzung und Nötigung dokumentiert.
Tagelang schwieg der Bundesinnenminister zu den Vorgängen in Chemnitz. Seine Zeitdiagnose unterscheidet sich nicht von der der AfD: Die Migrationsfrage sei »die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land«. Eine Pauschalverurteilung der knapp 20 Millionen Bürger*innen mit migrantischem Hintergrund in diesem Land. Auch die Verantwortlichen stehen für ihn fest: all diejenigen, die Migration dulden und Migrant*innen ins Land lassen. Das würden auch Umfragen bestätigen, schob Seehofer nach.
Doch den Bundesbürger*innen drückt laut einer aktuellen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Emnid ganz woanders der Schuh. An erster Stelle steht die »Sicherung der Rente« (91%), an dritter Stelle eine wirkungsvolle »Mietpreisbremse« (85%). Das Thema Zuwanderung landet mit 66% erst auf dem achten Platz der wichtigsten Regierungsaufgaben. Seehofer, der seit Beginn der Flüchtlingskrise von einer »Herrschaft des Unrechts« spricht, wollte sich schon in der Vergangenheit gegen sogenannte »Wirtschaftsflüchtlinge« »bis zur letzten Patrone« wehren. Eine Botschaft, auf die sich jeder »besorgte Bürger« berufen kann, wenn er »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!« brüllt.
Wer Migration als »Mutter aller politischen Probleme« der unter Globalisierungsdruck stehenden Gesellschaften geißelt, übergeht bewusst die Ursachen von Flucht – Krieg, Folter und politische Verfolgung, sei es in Syrien oder dem Irak, in Eritrea oder Afghanistan. Trennen, abschotten, wegsperren – das, was Seehofer gegen bestimmte Gruppen vorantreibt, legitimiert Rassismus und befeuert die Propaganda von Rechtsextremisten. (2) Diejenigen, denen sich der Bundesinnenminister unmissverständlich entgegenstellen müsste, weil sie das größte Sicherheitsrisiko im Land darstellen, betrachten ihn längst als einen der ihren. Es verwundert nicht, dass Alexander Gauland zufrieden flötete: »Seehofer hat in der Analyse vollkommen recht.«
Einer, der seinem Dienstherrn treu zur Seite steht, ist Hans-Georg Maaßen, Präsident des Inlandsgeheimdienstes. Dieser hatte gegenüber BILD erklärt: Dem Verfassungsschutz lägen »keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben«. Die Echtheit des im Internet kursierenden Videos, das Jagdszenen auf ausländische Menschen nahe des Johannisplatzes in Chemnitz zeigen, sei zu bezweifeln, es sprächen »gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken«. Damit übernimmt der oberste »Verfassungsschützer« fast wortgleich die Interpretation von Rechtspopulisten und rechtsextremen Kräften und biedert sich rechten Verschwörungstheoretikern an.
Mit seinen unbelegten Aussagen erweckt Maaßen den Eindruck, dass er im Schlepptau von Kretschmer, Seehofer und Gauland die Vorfälle in Chemnitz herunterspielen und vom Problem des Rechtsextremismus ablenken will. Dafür spricht, dass der parteilose Maaßen, der 2012 vom damaligen CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ins Amt gehievt worden war, schon vor drei Jahren auf einer Linie mit der bayerischen Regierungspartei lag. Entsprechend funktioniert das Zusammenspiel von Seehofer mit Maaßen gut – prompt stellte sich der Innenminister schützend vor seinen Nachrichtendienstler: »Ja. Herr Maaßen hat mein volles Vertrauen«. Er stehe im ständigen Austausch mit den Sicherheitsbehörden, darunter auch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Es ist deshalb schlüssig, wenn die F.A.S. berichtet, dass sich das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundesinnenministerium miteinander abgesprochen haben, bevor Maaßen die umstrittenen Äußerungen in der Presse tätigte.
Die Medien und Behörden widersprechen allerdings dem Chef der Kölner Bundesbehörde. So haben beispielsweise die Rechercheure von ARD-Faktenfinder ganz andere Erkenntnisse: Sie zitieren mehrere Quellen und präsentieren mehrere Tweets, die klar zeigen, dass es Angriffe in Chemnitz gegeben hat. Ort, Zeugenaussagen und Wetterverhältnisse seien eindeutig zuzuordnen, schreibt der ARD- Reporter Patrick Gensing.(3) Auch die Generalstaatsanwaltschaft Dresden bestätigt, dass Videos von den Demonstrationen in Chemnitz zahlreiche Übergriffe dokumentieren. Die 120 eingeleiteten Ermittlungsverfahren würden von Landfriedensbruch zu Körperverletzung bis hin zu Beleidigung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen reichen.
Das Wegsehen der sogenannten »Verfassungsschützer« hat System, sie sind seit Gründung der Bundesrepublik auf dem rechten Auge blind. Der Inlandsgeheimdienst zeigt seit vielen Jahren keine große Motivation, ernsthaft gegen Rechtsradikalismus vorzugehen. Den Geheimdienst-leuten war es stets wichtiger, V-Leute in der Szene zu decken, als Straftaten zu verhindern. Deswegen konnten die Mitglieder der Terrorzelle des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) jahrelang unbehelligt Migranten in der Bundesrepublik ermorden.
Die dubiose Rolle der Kölner Behörde im NSU-Komplex ist trotz Mammut-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Gesinnungskumpane sowie zahlreicher parlamentarischer Untersuchungsausschüsse im Bund und den Ländern bisher nicht aufgeklärt worden. Im Gegenteil: Die bewusste Vernichtung von Akten über V-Leute in der Neonaziszene im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach Bekanntwerden des NSU im November 2011 legt nahe, dass die bekannt gewordenen Skandale nur die Spitze eines Eisbergs sind.
Ungeklärt sind darüber hinaus Maaßens Kontakte zu AfD-Politikern. Dem Bundesinnen-ministerium zufolge entsprach ein Treffen des Verfassungsschutzpräsidenten mit dem AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland »nicht der gängigen Praxis«. 2015 hatte sich Maaßen zweimal mit der damaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry getroffen. Seit der Veröffentlichung des Buches einer AfD-Aussteigerin steht der Vorwurf im Raum, Maaßen habe Petry darüber beraten, wie eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz vermieden werden könne. Maaßen hat zu den AfD-Kontakten geschwiegen: Mit den Gesprächspartnern sei »Vertraulichkeit« verabredet worden.
Mehrere Politiker*innen verlangen inzwischen seinen Rücktritt. Darüber hinaus fordern neben der Partei DIE LINKE nun auch die Grünen eine Auflösung seiner Behörde, da ein personell und strukturell völlig neues »Bundesamt zur Gefahrenerkennung und Spionageabwehr«, das klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben arbeite, nötig sei. Bereits im Zusammenhang mit Mordserie des NSU habe die Bundesregierung eine fundamentale Reform der Behörde angekündigt. Stattdessen sei ein »weiteres Desaster« gefolgt: Maaßen habe im Fall von Anis Amri, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, dem Parlament nachweislich die Unwahrheit gesagt. Um die Strukturen und Zusammenhänge demokratie- und menschenfeindlicher Bestrebungen zu beobachten und zu analysieren, sei ein »unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung« notwendig, nur so ließen sich »die wiederkehrenden eklatanten Missstände im alten Verfassungsschutz beseitigen.«
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall (Hattingen) und Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus (Hamburg)
Anmerkungen
(1) Den »Schulterschluss« belegen Recherchen und Aufnahmen des ARD-Magazins »Monitor«: Beteiligt waren u.a. die Pegida-Repräsentanten Siegfried Däbritz und Lutz Bachmann sowie der Anführer des völkisch-nationalistischen Flügels in der AfD, Bernd Höcke, darüber hinaus der neurechte Ideologe Götz Kubitschek und der Kopf der Identitären Bewegung Österreichs, Martin Sellner. Dabei waren einschlägige Rechtsextreme wie Maik Arnold von der verbotenen Kameradschaft Nationale Sozialisten Chemnitz, der Neonazi Ives Rahmel des rechtsextremen Musiklabels PC Records und Christian Fischer, ein früheres Mitglied der Heimattreuen Deutschen Jugend.
(2) Natürlich kann man das Verhalten von Horst Seehofer auch damit erklären, dass die CSU kurz vor der bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober mit dem Rücken zur Wand steht und mit rechten Sprüchen um Wähler kämpft, die bei der AfD ihr Kreuz machen wollen. »Wir haben erstmals eine Partei rechts der Union, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft«, erklärte der CSU-Chef.
(3) Ein Kirchturm, Straßenschilder, eine Werbetafel und die Bebauung, die im Video zu sehen sind, zeigen, dass es in der Chemnitzer Bahnhofstraße an der Johanniskirche entstand. Wetter und Kleidung der Menschen passen zum 26. August in Chemnitz, Schatten und Sonnenstand verweisen auf den späten Nachmittag. Etwa zu dieser Zeit hatte bereits der Journalist Johannes Grunert, der für Zeit Online vor Ort war, von Übergriffen auf Migranten an diesem Ort geschrieben.
Foto: Kennen konservative Politiker das Grundgesetz, Foto: dpa