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Von der Schwarzmeerküste ins Ruhrgebiet

Wir gedenken: Nuri Dervisoglu

Die IG Metall betrauert den Tod von Nuri Dervisoglu (1938-2021), langjähriges IG Metall-Mitglied und Betriebsratsmitglied der Thyssen Henrichshütte Hattingen. „Wir haben einen engagierten Kollegen verloren, der sich aktiv für die Interessen seiner Kolleg*innen im Betrieb und die Integration seiner türkischen Landsleute eingesetzt hat“, sagt Clarissa Bader, 1. Bevollmächtigte der IG Metall Ennepe-Ruhr-Wupper.

Geboren 1938 in der Küstenstadt Pazar am Schwarzen Meer, wuchs Nuri in der Bosporus-Metropole Istanbul auf. Hier ging er vormittags zur Schule, nachmittags musste er arbeiten, um seine Mutter und die Geschwister finanziell zu unterstützen. Nach dem Schulabschluss arbeitete er als Schreiner, machte sich selbstständig, bis er sich 1962 als „Gastarbeiter“, so der damalige offizielle Sprachgebrauch, auf den Weg nach Deutschland machte.

„Das Datum habe ich nicht vergessen: 03. August 1962 – es war der Tag an ich ins Ruhrgebiet kam“, erzählte er im Gespräch mit der Redaktion. „Eigentlich, wollte ich gar nicht“, sagte der langjährige IG Metaller. Dann schilderte er wie ihn der Arbeitsamtsleiter in Istanbul auf eine Arbeit in Deutschland angesprochen hatte. Es war die Zeit, in der die Personalchefs in den Metall- und Stahlbetrieben händeringend Arbeitskräfte in den südeuropäischen Ländern und in der Türkei suchten. Viele der Angeworbenen wollten nicht lange bleiben, doch dann wurden es wie bei Nuri mehrere Jahrzehnte.

Nach seiner Ankunft im Ruhrpott malochte Nuri Dervisoglu zunächst als Einschaler bei der Baufirma Heitkamp in Wanne-Eickel. Eine zugesagte, aber nicht ausgezahlte Auslösung beim Einsatz auf einer Baustelle in Frankfurt/Main führte zum Konflikt und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Es war im März 1964 als er seine Arbeit auf der Hattinger Hütte am Hochofen aufnahm und danach als LKW-Fahrer in der Schlackenverwertung eingesetzt wurde. Bei der Arbeitsaufnahme unterschrieb er im Betriebsratsbüro auch den Aufnahmeschein für die IG Metall.

Das erste türkische Betriebsratsmitglied auf der Hütte

Die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 ermöglichte zum ersten Mal ausländischen Arbeiter*innen bei einer Betriebsratswahl zu wählen und zu kandidieren. Im Mai des gleichen Jahres wurde Nuri auf der Liste der IG Metall zum ersten Mal in den 35-köpfigen Betriebsrat gewählt, dem er 18 Jahre bis zur Stilllegung der Hütte angehörte. Nach der erfolgreichen Wahl wechselte er in die Personalabteilung und betreute insbesondere die große Zahl türkischstämmiger Belegschaftsmitglieder: Dolmetschte im Personalbüro und am Arbeitsplatz, half bei Arztbesuchen oder Behördenterminen bzw. Verhandlungen vor Gericht. Denn viele seiner Landsleute waren der deutschen Sprache nicht mächtig. Im Wohnungsausschuss des Betriebsrates setzte er sich dafür ein, dass auch an die türkischen Beschäftigten Wohnungen aus dem Bestand von „Thyssen Wohnen und Bauen“ vergeben wurden, „damit konnten sie endlich aus dem „Ledigenwohnheim“ ausziehen und ihre Familien nachholen“. Das habe auch dem Unternehmen geholfen, denn dadurch konnte die Zahl der „Urlaubsüberziehungen“ gesenkt werden.

Später wurde Nuri in seiner mühevollen Arbeit von Necati Egitim unterstützt, der es schaffte, als zweiter türkischer Kollege ins Betriebsratsgremium gewählt zu werden. Das war gut so, denn auch in den eigenen Reihen galt es „dicke Bretter zu bohren“: So ging es darum durchzusetzen, dass die Ansprachen in Betriebsversammlungen für ihre Landsleute auf Türkisch übersetzt wurden. Ihre Initiative Ende der 1970er Jahre ihren türkischen Landsleuten mit Unterstützung von Otto König aus dem IG Metall-Bildungszentrum Kenntnisse über Aufbau und Ziele der IG Metall und die Betriebsverfassung zu vermitteln, wurden „von der Betriebsratsspitze argwöhnisch beobachtet“.

Nuri Dervisoglu setzte sich jedoch nicht nur für die Lösung der Probleme der türkischen Arbeiter im Betrieb, in der Vertreterversammlung und im Migranten-Ausschuss der IG Metall Hattingen ein, sondern leistete auch in der Ruhrstadt wertvolle Integrationsarbeit. Er half mit beim Aufbau des „Vereins zur Förderung von Ausländerarbeit (VFA)“, dem Vorläufer des heutigen „Integrationsrates“, war aktiv im türkischen „Arbeiter- und Freundschaftsverein“ und unterstützte die Fußballer des „TAF Anadoluspor“.

Es kam der 19. Februar 1987: Dieser Tag ging in die Geschichte der Stadt Hattingen als „Schwarzer Donnerstag“ ein. Der Thyssen-Konzern gab die Liquidierung der Henrichshütte bekannt. Treffend lautete die Schlagzeile der „Süddeutschen Zeitung“: „Der Infarkt des stählernen Herzens“. „Natürlich haben wir den Kampf aufgenommen. Seite an Seite haben die deutschen und ausländischen Kolleginnen und Kollegen für den Erhalt des Standortes und ihre Arbeitsplätze gekämpft.“ Selbst in der Türkei wäre über ihren Kampf berichtet worden.

Nuri war überzeugt, dass die Solidarität in dem zwölf Monate andauernden Kampf dazu beigetragen habe, viele Schranken zwischen den Nationalitäten niederzureißen. Er selbst  ist wie viele seiner deutschen und ausländischen Kollegen über den Sozialplan ausgeschieden. 1998 wechselte der IG Metaller offiziell in die Rente, sprich Ruhestand. Auch danach blieb der Gewerkschafter für viele türkische Familien in Hattingen ein gesuchter Ansprechpartner. Der Tod beendete sein Pendeln zwischen der Millionen-Metropole Istanbul und der Kleinstadt Hattingen im Revier. Nuri wurde in der Türkei beigesetzt. Wir rufen ihm von hier aus nach: „Glück auf, Kollege!“

Autor: Otto König

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