
Das Tarifvertragssystem prägt die Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Damit es funktionsfähig bleibt, bedarf es einer starken Tarifbindung, deren Stärkung ist ein Kernanliegen der Gewerkschaften. Voraussetzungen dafür sind ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Arbeitnehmer*innen in den Betrieben, um Flächentarifverträge erkämpfen zu können sowie die Arbeitgeber in der Tarifbindung zu halten oder sie hinein zu streiken. Diese sorgt für höhere Entgelte der Arbeitnehmer*innen sowie für geringere Abstände zwischen den Tätigkeitsniveaus und trägt bei der Entlohnung von Frauen und Männern zu mehr Gerechtigkeit bei. Zugleich schaffen Tarifverträge einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten in der Branche und Region. Für Betriebe und Unternehmen ergibt sich eine gesicherte Planungsgrundlage, weil während der Laufzeit der Verträge »tarifvertraglicher Frieden« herrscht.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass das Problem mit den „Trittbrettfahrern“, d.h. jenen Arbeitnehmer*innen die ohne Gegenleistung Tarifverträge nutzen, in der betrieblichen Diskussion ein Dauerbrenner ist. Mit Unverständnis reagieren gewerkschaftlichen Funktionäre gegenüber Beschäftigten, die die zwischen den Arbeitgebern und der IG Metall in Tarifverhandlungen vereinbarten Entgelte und deren Erhöhung nach dem Motto „Warum soll ich Mitglied der Gewerkschaft werden und einen Beitrag bezahlen, wenn ich die Vorteile auch so mitnehmen kann?“ gerne einsacken.
Daraus entwickelt sich in der betrieblichen Praxis – vor allem unter Vertrauensleuten und Betriebsratsmitgliedern – immer wieder die Forderung, dass nur gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte privilegiert die Leistungen bekommen sollen, die von den Tarifparteien vereinbart worden sind. Schließlich heißt es im Geltungsbereich der Tarifverträge: „Persönlich“ gelten sie „für alle in diesen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer*innen Mitglied der IG Metall sind“. Dass die tarifgebundenen Arbeitgeber die von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer*innen einheitlich behandeln, als wären alle tarifgebunden, liegt im eigenen Interesse, schließlich wollen keinesfalls Anreize für eine Mitgliedschaft liefern, damit die Gewerkschaft in ihrem Betrieb nicht an Kampf- und damit an Durchsetzungskraft gewinnt.
Fakt ist: Der Arbeitgeber entscheidet allein über die Tarifbindung, doch sein Entschluss wird entscheidend durch die Bereitschaft der Arbeitnehmer*innen sich gewerkschaftlich zu organisieren, beeinflusst. Fehlt es an jeglicher gewerkschaftlicher Organisation oder ist diese im Betrieb zu schwach, wird sich ein Arbeitgeber regelmäßig gegen eine oder für die Flucht aus der Tarifbindung entscheiden. Die gewerkschaftliche Organisation ist also Grundvoraussetzung dafür, dass das auf Mitgliedschaft aufbauende deutsche System der Tarifautonomie funktionieren kann.
Gewerkschaftsmitglieder dürfen bevorzugt werden
In einer aktuellen Entscheidung stellte nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fest: Bestimmte Leistungen nur Arbeitnehmern zu gewähren, die einer Gewerkschaft angehören, geht in Ordnung. Eine unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich Organisierter und nicht gewerkschaftlich Organisierter in einem Tarifvertrag verletzt nicht die Grundrechte der Arbeitnehmer, solange dadurch nur ein „faktischer Anreiz zum Beitritt in eine Gewerkschaft erzeugt wird“. (Beschl. v. 21.12.2018, Az. 1 BvR 1278/16).
Anlass für diesen hochsprachlichen Beschluss war die Beschwerde eines bayrischen Arbeitnehmers, der seit 1987 bei Siemens beschäftigt war. 2007 verschmolz der Konzern seine Kommunikationssparte mit Nokia zu dem Gemeinschaftsunternehmen Siemens Nokia Networks. Die Ankündigung die Firmenzentrale in München mit 3.600 Beschäftigten stillzulegen, führte zu wochenlangen Protesten der Betroffenen. Schließlich unterzeichneten die Verantwortlichen Das des Unternehmens mit der IG Metall einen Transfer- und Sozialtarifvertrag und einen Interessensausgleich mit dem Betriebsrat. Für IG-Metall-Mitglieder wurde vereinbart, dass sie in der Transfergesellschaft zehn Prozent mehr als Nicht-Mitglieder bekommen – also 80 Prozent ihres bisherigen Gehalts. Zusätzlich sollten IG-Metall-Mitglieder eine Extra-Abfindung von 10.000 Euro erhalten. Da es eine Stichtagsregelung gab, konnte sich niemand durch einen nachträglichen Beitritt diese Vorteile sichern.
Der klagende „Siemensianer“ war kein Mitglied der IG Metall, sah sich dennoch benachteiligt und wollte mit den Gewerkschaftsmitgliedern gleichbehandelt werden. Da das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Klage ablehnte, erhob er Verfassungsbeschwerde. Es sei „sein gutes Recht, sich nicht in einer Gewerkschaft zu organisieren“. Wenn aber in einem Tarifvertrag Sondervorteile für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart werden dürften, entstehe ein unzulässiger Druck, Mitglied zu werden.
Faktischer Anreiz ja, Zwang nein
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen und damit die abweisenden Entscheidungen sowohl des Landesarbeitsgerichts München vom 27. März 2014 als auch des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 2016 bestätigt. „Eine individuelle Zwangswirkung ist nicht erkennbar“, heißt es in dem Beschluss.(1) Der entscheidende Passus im Beschluss lautet: „Eine unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich organisierter und nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Tarifvertrag verletzt nicht die negative Koalitionsfreiheit, solange sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht.“ Ein „faktischer Anreiz“ zum Beitritt in eine Gewerkschaft sei noch kein „unzulässiger Druck“.
Die Freiheit des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG), Arbeitsverträge frei verhandeln und abschließen zu können, sei damit nicht verletzt worden. Zwar befände sich der Arbeitnehmer im Verhältnis zum Arbeitgeber insbesondere beim Abschluss des Arbeitsvertrages in einer strukturell unterlegenen Position. Die betrieblichen und tarifvertraglichen Regelungen, die zum Teil auch auf den klagenden Mann Anwendung fanden, waren angesichts der besonderen Umstände des Falles jedoch geeignet, diese strukturelle Unterlegenheit aufzufangen.
Die Karlsruher Richter verwiesen letztlich darauf, dass Gewerkschaften nur mit Wirkung für ihre Mitglieder Tarifverträge abschließen können. Deshalb bestehe aus Sicht der Nicht-Mitglieder immer die Gefahr, dass „ihr Individualvertrag hinter dem kollektiven Tarifvertrag zurückbleibt“. Somit bestehe immer ein faktischer Anreiz zur Mitgliedschaft, so die Verfassungsrichter.
Artikel von Otto König, ehemaliger 1. Bevollmächtigter IGM Gevelsberg-Hattingen
(1) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. November 2018 – 1 BvR 1278/16
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