„Was bewegen können – machte mich selbstbewusst“

„Klappstühle, Müdigkeit und Regen und unterm Zeltdach bleibt nur wenig Raum. Wir haben Angst und Wut, wollen uns bewegen, und dieses bisschen Hunger stört uns kaum. Wir müssen mehr doch sonst als Hunger leiden.“ Die Frauen sitzen an der Treppe vor dem Tor. „Dieses Werk ist unsers, und so muss es bleiben!“ Sie rufen mich: „Ja komm nur, lies uns vor“. So schreibt Helmut Lemmer in seinem Gedicht „Bei den Frauen im Hungerstreik“.
1987: Tage vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung der Thyssen Stahl AG griffen zwölf Frauen der Fraueninitiative „Henrichshütte“ zum äußersten Mittel des Widerstandes. Am 19. Juni traten sie in den Hungerstreik – gegen die geplante Werksschließung. Fünf Tage campierten sie im Zelt und Bauwagen vor dem Hütteneingang. Eine der „12“ war Irmgard Larisch, damals Sekretärin im Betriebsratsbüro. Noch heute ist sie beindruckt von der großen Welle der Solidarität, die sie damals erreichte. Hunderte von BürgerInnen kamen vorbei. Telegramme und Briefe, die „uns Mut machten“, wurden am Werkstor abgegeben.
Bild: Die „Frauen im Hungerstreik“ blockieren bei der 24-stündigen Arbeitsniederlegung den Werkseingang. Irmgard Larisch mitten drin (1. Reihe 3.v.l.)
Es waren die „Tage der Entscheidung“. Der Protest im Revier erreichte einen weiteren Höhepunkt: Die Hattinger Stahlarbeiter legten 24-Stunden die Arbeit nieder. 10.000 Beschäftigte der drei Hoesch-Stahlwerke traten in einen zwölfstündigen Solidaritätsstreik. In Hattingen gingen erneut 14.000 Menschen auf die Straße. „Am Nachmittag des 23. Juni kam die Hiobsbotschaft aus der Duisburger Konzernzentrale“, schildert die engagierte IG Metallerin: „Wir, die hungerstreikenden Frauen, erfuhren gemeinsam mit rund 4.000 vorm Werkseingang versammelten Beschäftigten, Ehefrauen und Kindern sowie vielen BürgerInnen vom „Stilllegungsbeschluss“ des Thyssen-Aufsichtsrates“.
Irmgard Larisch wurde 1955 in Nidden (Kreis Memel) im heutigen Litauen geboren. Im Alter von vier Jahren siedelte sie mit ihren Eltern und Geschwistern in die Bundesrepublik über. Die „Aussiedler-Familie“ kam nach Nordrhein-Westfalen und wurde der Ruhrstadt Hattingen „zugeteilt“. Der Vater, vormals Fischer, fand auf der Hütte Arbeit. Irmgard besuchte die Heggerfeld-Hauptschule. In der Freizeit war sie im Turnverein und in der kirchlichen Jugendarbeit aktiv. Verschmitzt fügt sie hinzu, mit der Kirche habe sie es ja „nicht so gehabt‘“, aber so habe junge frau mit 15 oder 16 Jahren eine Begründung gehabt „abends länger weg bleiben zu können“.
In der kleinen Weilstrasse in Hattingen im Schuhhaus Schulte begann Irmgard 1970 ihre zweijährige Ausbildung als Verkäuferin. Parallel lernte sie auf der Abendschule Stenographie und Schreibmaschinenschreiben, „wie man das damals so nannte“. Drei Jahre später nahm sie eine Tätigkeit im Schreibbüro der Qualitätsstelle auf der Hütte auf und wurde im November 1973 Mitglied der IG Metall. Die Kolleginnen in diesem Bereich wählten sie zur Vertrauensfrau der Gewerkschaft. Später engagierte sie sich im Frauenausschuss der IG Metall Hattingen und in der Vertreterversammlung.
Nach acht Jahren mit etwas „Anschubhilfe, ich traute mir das erst nicht zu“, wechselte sie ins Büro des Walzwerkchefs Eichholz. Mitte der 1980er Jahre, an der Spitze des Betriebsrates gab es einen Wechsel, der bisherige Vorsitzende Willi Koch schied aus und Rolf Bäcker wurde sein Nachfolger, übernahm Irmgard die Stelle von Ilse Schürmann, Sekretärin des Betriebsrates. Eine interessante Tätigkeit, doch so die Gewerkschafterin, sie habe immer bedauert, dass ihre Tätigkeit auf das Vorzimmer des Vorsitzenden beschränkt war und sie nicht „in die Arbeit des Betriebsrates einbezogen wurde“.
„1987 war für alle Beschäftigten auf der Hütte ein schweres Jahr“, doch rückblickend stellt sie fest: „Für mich war es auch eine spannende und interessante Zeit“. Irmgard Larisch gehörte zu den 300 Frauen dies sich am 05. Februar 300 mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit wandten: „Wir werden uns nicht damit begnügen, unsere Solidarität zu erklären. Wir werden als Betroffene oder an der Seite unserer Männer und mit unseren Kindern die unsozialen Pläne der Thyssen-Manager durchkreuzen helfen.“ Drei Wochen später gründeten 100 Frauen im IG Metall-Haus Große Weilstrasse die „Fraueninitiative Henrichshütte“. „Wir klinkten sich uns sofort in die „Woche der Unruhe“ ein“, erzählt Irmgard. Vor der Thyssen-Hauptverwaltung in Hamborn skandierten wir: „Wir kochen schon lange, jetzt machen wir einen Auflauf“.
Der „Zusammenhalt der Frauen“, die Aktionen in den langen Monaten des Kampfes „mit den Männern“ und die Erfahrung „frau kann was auf die Beine stellen und bewegen“, hat sich bei Irmgard Larisch tief eingeprägt. „Unsere gemeinsamen Aktionen, aber auch unsere Berichte darüber in vielen Veranstaltungen außerhalb, haben dazu beigetragen, dass ich mich weiterentwickelt habe, ja selbstbewusst wurde“, erklärt die Gewerkschafterin.
1988 wechselte Irmgard Larisch mit einem Teil der Hüttenleute in die neugegründete VSG. Sie arbeitete wieder im Betriebsratsbüro, nun mit den Vorsitzenden Peter Maurer und Henrich Apool. Dadurch, dass sie nun in die Betriebsratstätigkeit einbezogen wurde, machte die Arbeit mehr Spaß: „Ich konnte beraten, helfen oder an die richtigen Stellen vermitteln“. Allerdings sollte das nicht lange dauern: Zuerst drehten auf dem Rücken der VSG-Beschäftigten die Stahlkonzerne Thyssen, Krupp und Klöckner den Thriller „Dallas an der Ruhr“. Den Schlussteil der Serie übernahm GMH-Großmann – er führte die VSG ohne „eine Wimper zu zucken“ in Konkurs. „Uns blieb nichts anderes übrig als 2004 das Licht auszumachen“, sagt Irmgard, die mit ihren KollegInnen in eine Transfergesellschaft überging, verbittert
Um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, machte sie sich gemeinsam mit ihrem Mann Volker selbstständig und übernahm in Hattingen die Gaststätte „Zum Rosenberg“, die sie heute noch führt. Neu war diese Tätigkeit für sie nicht, denn früher hatte sie immer wieder bei ihrer Schwester Helga Szepanski im „Osteck“ ausgeholfen. Heute ist es umgekehrt. Viele Kollegen der Hütte oder der VSG kommen zu ihr. Sei es zum „VSG-Stammtisch“ oder zum Kegeln, dennoch so Irmgard: “Mir fehlt der direkte Kontakt und die unmittelbare Möglichkeit zu helfen.“
Foto: Irmgard Larisch (r.) mit ihrer Schwester Helga Szepanski in der Gaststätte „Zum Rosenberg“ –
Foto: IGM-GH