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„Wer an der Altersschraube dreht, ist in Wahrheit ein Renten-Räuber“

Arbeitgeber nutzen „Fachkräftemangel“ zum Angriff auf „Rente mit 63“

Fachkräftemangel ist derzeit ein mediales Dauerthema. Berufene und unberufene „Expert*innen“ sehen hierin ein Hauptproblem des „Wirtschaftsstandort Deutschland“. „Für Unternehmen wird es zunehmend schwierig, qualifiziertes Personal zu rekrutieren“, stellte der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten im November 2022 fest. Und für BDA-Präsident Rainer Dulger steht fest: „Gelingt es nicht, mehr Fachkräfte zu gewinnen oder im Beruf zu halten, drohen Wohlstandsverluste“. Doch statt naheliegende Lösungen – ausbilden, weiterbilden, nach Tarif bezahlen, Arbeitsplätze altersgerecht gestalten, Arbeitsbedingungen und Infrastruktur für Kinderbetreuung verbessern – zu ergreifen, setzen die Arbeitgeber auf längere Arbeitszeiten – sie favorisieren eine auf 42 Stunden verlängerte Wochenarbeitszeit und fordern, dass Beschäftigte erst mit 70 Jahren in Rente gehen.

Bundesweite Engpässe an Fachkräften gibt es vor allem im Handwerk, auf dem Bau, in Pflege- und Gesundheitsberufen, bei Berufskraftfahrer*innen im Güterverkehr. Das sind Branchen, in denen entweder zu wenig ausgebildet wird, die Arbeitsbedingungen miserabel und/oder das Lohnniveau niedrig sind. Dass jetzt vielerorts zusätzliches Personal gesucht werde, hat auch mit Versäumnissen der Vergangenheit zu tun, betont der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen. So sei beispielsweise der Beschäftigungsaufbau in der Pflege und Kindererziehung über Jahre vernachlässigt worden.

Die Zahl der von allen anhängig Beschäftigten pro Jahr geleisteten Arbeitsstunden ist nicht gesunken, sondern gestiegen: in den letzten zehn Jahren von 50 auf 53 Milliarden Stunden. Das hat damit zu tun, dass die Beschäftigung inzwischen einen Höchststand erreicht hat. Mitte des vergangenen Jahres gab es laut IAB in Deutschland mehr als 41,5 Millionen Beschäftigte. Größer geworden ist auch das Erwerbspersonenpotenzial, zu dem neben Berufstätigen auch Arbeitslose zählen sowie Menschen aus der „Stillen Reserve“, die erwerbstätig sein möchten, aber nicht arbeitslos gemeldet sind. Gründe dafür sind: Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen zehn Jahren etwas zurückgegangen, Frauen sind öfter als früher erwerbstätig und die Lebensarbeitszeit hat sich verlängert – 2022 sind Beschäftigte im Durchschnitt mit 64 Jahren in Altersrente gegangen, zwei Jahre später als zur Jahrtausendwende. Hinzu kommt eine gestiegene Migration.

Diese Entwicklung bedeutet aber nicht, dass überall Arbeitskräftemangel herrscht. So beträgt die Arbeitslosenquote im „Helferbereich“, also bei Menschen ohne anerkannte dreijährige Berufsausbildung, immer noch mehr als 20 Prozent, stellt der IAB-Forscher Alexander Kubis fest.

Wie in der Gesamtwirtschaft sind auch in der Metall- und Elektroindustrie vor allem Fachkräfte mit Berufsausbildung knapp. Fest steht: Der Fachkräftemangel in den Betrieben ist maßgeblich hausgemacht. So ist zwar die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge 2022 im Vergleich zum Vorjahr gleichgeblieben. Allerdings waren es 2019 noch fast 50.000 Ausbildungsplätze mehr, so das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Das von Arbeitgebern immer wieder vorgetragene Argument, es gebe nicht genügend qualifizierte Bewerber, soll von den eigenen Versäumnissen und dem Problem der „strukturellen Benachteiligung“ von Jugendlichen ablenken.

Erst jüngst hat eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung erneut nachgewiesen, dass Hauptschüler*innen sowie junge Menschen mit Migrationsgeschichte bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen benachteiligt werden. Zahlen des BIBB bestätigen das: 18.000 Personen mit Hauptschulabschluss fanden zuletzt keinen Ausbildungsplatz. Hinzu kommt: Gerade in strukturschwachen oder ländlichen Regionen, insbesondere in Ostdeutschland, sind aufgrund der jahrzehntelangen Abwanderung die Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt deutlich niedriger. Diese Entwicklung wird noch dadurch verstärkt, dass „in den ostdeutschen Bundesländern weniger Betriebe junge Menschen ausbilden“, wie die Daten des 16. Ausbildungsreportes der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg im November 2022 belegen.

Klagen über Fachkräftemangel haben die Debatte über ein höheres Renteneintrittsalter erneut aufflammen lassen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) möchte den Fachkräftemangel dadurch beheben, dass künftig mehr Menschen bis zum Alter von 67 Jahren auch tatsächlich arbeiten. Immer mehr Menschen in Deutschland würden zu früh in Rente gehen, so die Begründung für seinen Angriff auf die „Rente mit 63″. Diese wurde 2014 eingeführt und ermöglicht es „besonders langjährig Versicherten“ (wer 45 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat) einen frühzeitigen Rentenbezug ohne Abschläge.

Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung kam im Jahr 2021 jeder dritte Zugang zur Altersrente über diesen Weg. Ein weiteres Viertel ging vorzeitig in Rente und hat dafür teils erhebliche Abschläge in Kauf genommen. Im Mittel ist ihr Rentenzugang knapp 28 Monate vor der Regelaltersgrenze erfolgt. Einen Grund dafür ist, dass viele Menschen das gesetzliche Rentenalter aus gesundheitlichen Gründen nicht erreichen. Dazu gehören auch psychische Erkrankungen, u.a. in Folge zunehmender Arbeitszeitverdichtung.

Andererseits zwingen Altersarmut und niedrige Altersbezüge immer mehr Rentner*innen auch im höheren Alter, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE ist die Zahl derer, die trotz Rente noch malochen, weiter gestiegen. Im vergangenen Jahr waren mehr als eine Million Beschäftigte (1.066.895) 67 Jahre oder älter, das sind 15.000 mehr als 2021 und 200.000 mehr als 2015. Mehr als 400.000 Beschäftigte sind bereits über 70 Jahre alt, 138.000 über 75, mehr als 13.000 sind sogar noch in einem Alter von über 85 Jahren erwerbstätig.

Doch das reicht der Kapitalseite nicht.  So hat BDA-Präsident Rainer Dulger die Steilvorlage des Bundeskanzlers aufgegriffen und die Abschaffung der „Rente mit 63“ gefordert. Diese habe zu einem „Braindrain“ geführt – viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte stünden nicht mehr zur Verfügung. Gleichzeitig soll, so Dulger, das Renteneintrittsalter an „die steigende Lebenserwartung“ gekoppelt werden. Der BDA-Chef spricht in diesem Zusammenhang von einer „Grundrenovierung des Sozialsystems“. Unterstützung bekommt er aus dem Kreis neoliberaler Ökonom*innen wie der Vorsitzenden des Sachverständigenrates Monika Schwitzer, die eine Anhebung des  Renteneintrittsalter „bis auf 70“ fordert.

Die Diskussion über ein späteres Renteneintrittsalter wird ohne die Betroffenen geführt. Laut einer Umfrage im Auftrag der IG Metall antworteten drei Viertel (74 %) der Befragten, dass es für sie „unrealistisch“ sei, über das 67. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. „Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet faktisch nur höhere Abschläge bei der gesetzlichen Rente. Wer an der Altersschraube drehen will, ist in Wahrheit ein Renten-Räuber“, kommentiert Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, die entsprechenden Vorstöße.

Für den DGB steht fest: Ausbilden, weiterbilden, nach Tarif bezahlen, Arbeitsplätze altersgerecht gestalten, Arbeitsbedingungen und Infrastruktur für Kinderbetreuung verbessern – damit sei der Fachkräftemangel abzumildern. Der DGB fordert seit Jahren ein Recht auf Weiterbildung vor allem für Frauen und Ältere und ein modernes, unbürokratisches Zuwanderungsrecht. Denn um die aktuelle Mangellage auf dem Arbeitsmarkt aufzufangen, müssten 400.000 Zuwanderer pro Jahr nach Deutschland kommen und bleiben, aber zu fairen Bedingungen, nicht als Weg in prekäre Arbeit. Es dürfe aber nicht geschehen, dass mit viel Aufwand Fachkräfte angeworben, während gleichzeitig gut ausgebildete Menschen aus Deutschland abgeschoben werden, weil sie keinen sicheren Aufenthaltsstatus haben.

Autor: Otto König

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