
Zündstoff: Erwartungen der Beschäftigten kollidieren mit „Null-Runden“- Forderung der Arbeitgeber
8 Prozent fordert die IG Metall. Die IG BCE will die Kaufkraft durch eine spürbare Erhöhung der Monatslöhne steigern. Ver.di will im öffentlichen Dienst 10,5 Prozent mehr Gehalt – mindestens aber 500 Euro. „Die neue Tarifforderung der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst ist maßlos und beschwört die Übel der Vergangenheit herauf“, empörte sich Dietrich Creutzburg prompt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. (13.10.2022) Das ist Nonsens: Die aktuellen Tarifforderungen der Gewerkschaften sind gemessen an der tatsächlichen Teuerung mehr als moderat.
„Die Inflationsentwicklung, Lebensmittel- und insbesondere Energiepreise reißen tiefe Löcher in die Haushaltskassen der Beschäftigten. Viele von ihnen wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien über Wasser halten können, einige können ihre Mieten oder Heizkosten nicht mehr zahlen“, betonte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke bei der Vorstellung der Forderung für den Öffentlichen Dienst. Deshalb solle neben dem Inflationsausgleich ein starkes Augenmerk auf die unteren Gehaltsklassen gelegt werden.
Die IG Metall gibt sich in der laufenden Tarifrunde kampfbereit. „Die Arbeitnehmer kommen mit der Lage nicht zurecht“, so der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. „Wir spüren extremen Druck, ein gutes Ergebnis zu erzielen.“ Tastsächlich sind die Erwartungen der Beschäftigten so hoch wie lange nicht. Nach mageren Pandemiejahren mit Reallohneinbußen aufgrund der hohen Inflation müssen die Gewerkschaften für ihre Mitglieder wieder respektable Tariferhöhungen erreichen.
Zuletzt lag die Inflation nach vorläufigen Berechnungen des statistischen Bundesamtes im September bei zehn Prozent. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrer Herbstprognose auch 2023 mit 8,8 Prozent Inflation in Deutschland und erst ab 2024 mit einer spürbaren Beruhigung. Darunter leidet nicht nur das Portemonnaie vieler Menschen, sondern auch die Konjunktur.

Kräftige Lohn- und Gehaltszuwächse sind das beste Mittel gegen steigende Lebenshaltungskosten, zugleich stabilisieren sie die Kaufkraft. Denn ohne ausreichend Geld, das verkonsumiert werden kann, lässt sich der Wirtschaftskreislauf nicht am Laufen halten, die absehbare Rezession würde noch schlimmer ausfallen, wenn die Kaufkraft und damit der private Konsum einbrechen. Aus ökonomischer Sicht spricht also nichts gegen kräftige Lohnsteigerungen, sondern alles dafür.
IG BCE prescht vor
Während die Lohnrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie im Öffentlichen Dienst reichlich Zündstoff bergen, haben sich die auf Konsens bedachten Chemie-Tarifparteien geräuschlos auf ein „nachhaltig wirksames Entlastungspaket“ geeinigt. Der Tarifabschluss sieht als tarifliches Inflationsgeld steuerfreie Sonderzahlungen in zwei Tranchen von jeweils 1500 Euro pro Kopf vor, die spätestens im Januar 2023 und im Januar 2024 fällig werden. Ebenfalls jeweils zum Januar 2023 und 2024 greifen tabellenwirksame Entgelterhöhungen von je 3,25 Prozent, in Summe also 6,5 Prozent. Letztere gelten auch für die Auszubildenden, die zusätzlich je 500 Euro Sonderzahlung in zwei Tranchen erhalten. Die Tariferhöhungen können aus wirtschaftlichen Gründen mittels Betriebsvereinbarung um bis zu drei Monate verschoben werden, für die Sonderzahlung gilt dies nicht.
Damit werden die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in der „Konzertierten Aktion“ ins Spiel gebrachten steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen von bis zu 3000 Euro komplett ausgeschöpft. Die Beschäftigten werden mit einer schnellen Medizin gegen die Inflation ruhig gestellt und die Unternehmen entlastet, da sie die dauerhafte prozentuale Lohnerhöhung erst später stemmen müssen. Ob dieser Abschluss jedoch ein Signal an die anderen Branchen sendet, bleibt abzuwarten. Denn dort, wo noch Tarifrunden laufen bzw. noch bevorstehen, stehen die Zeichen eher auf Konfrontation als auf Einigung.
Für den ver.di-Vorsitzenden Werneke sind Einmalzahlungen „Strohfeuer, die sich verbraucht haben“. Dagegen will die IG Metall mit den Metallarbeitgebern über die neue Option steuer- und abgabenfreier Einmalzahlungen verhandeln. „Das ist auf jeden Fall ein attraktives Angebot der Politik“, sagte Jörg Hofmann gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.10.2022). Zwar bleibe für die IG Metall das Ziel dauerhaft wirkender Lohnerhöhungen im Vordergrund. Das Angebot der Ampel eröffne jedoch die Möglichkeit, „solche Zahlungen in monatlichen Raten über die Laufzeit eines Tarifabschlusses zu verteilen.“ Darüber, wie sich dies am besten mit einer regulären Erhöhung der Monatslöhne austarieren lasse, werde zu verhandeln sein, so Hofmann.
In der Metall- und Elektroindustrie stockt nach zwei bislang ergebnislosen Gesprächen der Tarifkontrahenten in allen Tarifbezirken die Tarifrunde – auch weil die Arbeitgeber auf einer „Nullrunde“ beharren. Der oberste Prediger des Verzichts, Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf, sieht in der laufenden Tarifrunde keinen Spielraum für eine prozentuale Entgelterhöhung. Wolf erweckt den Eindruck, als wäre das Land zu retten, wenn die Beschäftigten auf möglichst viel verzichten würden: auf Lohnerhöhungen, Weihnachtsgeld und Spätzuschläge und auch auf warme Büros und Wohnungen.
Entsprechend verkündeten die Verhandlungsführer der Metallarbeitgeber quer durch die Republik: Die Nullrunde sei „das einzig Machbare, um möglichst viele Mitarbeiter durch diese Krise zu bringen.“ Worauf Jörg Hofmann sarkastisch reagierte: „Es gilt der alte Spruch: Wenn du den Kampf gewinnen willst, dann steige nie auf ein totes Pferd“. Der IG Metall-Vorisitzende rechnete den Metallarbeitgebern vor: die geforderten acht Prozent mehr Lohn kosten die Firmen 16 Milliarden Euro, allein in diesem Jahr habe die Branche an ihre Aktionäre bereits 27 Milliarden Euro Dividenden ausgeschüttet. „Da verstehen die Arbeitnehmer nicht, dass sie den Gürtel enger schnallen sollen.“

Die IG Metall schätzt die Lage auf Basis einer Umfrage unter Betriebsräten von gut 3360 Unternehmen weitaus besser ein und weist die Panikmache der Arbeitgeber zurück. Demnach berichten drei Viertel der Betriebe von guten oder sehr guten Zahlen in Bezug auf Auslastung, Auftragsbestand und -eingänge. Etwa zwei Drittel der Betriebe machen derzeit gute oder sehr gute Umsätze. Bei Gewinnen und Investitionen ergibt sich ein gemischtes Bild. Hier schätzt knapp die Hälfte der befragten Betriebsräte die Situation als gut oder sehr gut ein.
88 Prozent der Betriebe haben derzeit keine Engpässe bei der Liquidität. Und auch unter den rund 12 Prozent Betrieben mit Liquiditätsengpässen sieht nur eine Minderheit von 16 Prozent (insgesamt weniger als 2 Prozent der befragten Betriebe) die akute Gefahr einer Insolvenz. In deutlich mehr als zwei Dritteln der Betriebe werden gestiegene Preise laut Befragung zumindest teilweise weitergeben. Dies sind deutlich mehr als noch im Frühjahr des laufenden Jahres, als nach Einschätzung der Betriebsräte nur gut die Hälfte der Betriebe dazu in der Lage war.
Produktionsstopps wegen fehlender oder zu teurer Lieferungen von Vorprodukten oder wegen zu hoher Energiepreise sind die Ausnahme. 70 bis 80 Prozent der Betriebe produzieren ohne Einschränkungen normal weiter. Auch Kurzarbeit ist kaum ein Thema. Nur 9,4 Prozent der Betriebsräte sehen ein höheres Verlagerungsrisiko. Die Beschäftigungs-situation ist weitgehend stabil. Knapp ein Viertel der befragten Betriebsräte berichten von aktuellem Beschäftigungsaufbau bei den Stammarbeitskräften. Die Tarifforderung nach 8 Prozent mehr Entgelt ist und bleibt angemessen und für die Unternehmen der Branche machbar. „Die NRW-Arbeitgeber müssen in der dritten Runde am 28. Oktober endlich ein verhandelbares Angebot auf den Tisch legen“, sagt die IG Metall-Bevollmächtigte Clarissa Bader. Angesichts der bisherigen Verweigerungshaltung der Metallarbeitgeber stehen die Zeichen in der Metall- und Elektroindustrie auf Eskalation. Die Gewerkschaft bereite deshalb ab Ende Oktober, nach Beendigung der Friedenspflicht, Warnstreiks vor.
Autor: Otto König